Helene Berckemeyer – Das Ende von Thurow

 

Note:  The following contains text only.  For images and footnotes associated with this memoir, refer to the English translation “Helene Berckemeyer – The End of Thurow”.


Das Ende von Thurow

von Helene Berckemeyer geborene Bock

Abschrift vom abgeblaßten Original im Januar 2001 durch Alexander von Storch, Escondido, Kalifornien, USA Überarbeitung durch Bernd Sasse, Rheinfelden, Schweiz


1. Februar 1945

Kalter Nebel, frühe Dämmerung.

Ein milder Zug grauer Planwagen kriecht durch die lange Allee auf den Hof zu.  Wir wissen, was er bedeutet, denn Vorläufer haben uns berichtet von dem Jammer, der sich von Osten heranwalzt, der laut ruft nach unserer Hilfe, unserem Herzen.

So ist alles bereit, sie aufzunehmen. Aller verfügbare Raum ist frei gemacht.  Weiche Strohschütten sind überall. Gescheuerte Waschkessel zur Herstellung der Mahlzeiten warten.  Volle Milchkannen sind zur Stelle. Der Kohlenvorrat für die Zentralheizung reicht weit über dieses Jahr hinaus.  Bernhard ist in diesem Winter fast ganz in Mestlin.  Er führt dort einen neuen Inspektor ein.  Und für das Hin und Her sind die Straßen durch Tieffliegerangriffe zu sehr gefährdet.  Ich bin dankbar, daß er mir Kartoffeln aus langen Mieten und Milch zur Verfügung stellt. Sonstige Vorräte hat mein Haushalt.  Sie sollen’s gut haben, die armen Obdachlosen, die so Unvorstellbares durchgemacht haben.

Inspektor Lüneburg und ich gehen dem traurigen Zug entgegen.  Die ostpreußischen schmalen Blutpferde vor den Wagen sind zum Skelett abgemagert.  Wir freuen uns, daß Rauhfutter und Hafer reichlich vorhanden sind.  Mit steifgefrorenen Gliedern steigen die Männer vom Wagen.  Für ihre und der Pferde Unterbringung in Ställen und Scheunen sorgt Herr Lüneburg.  Ich hole mir die Mütter und Kinder, die Alten und Kranken aus den Wagen.  Von dem Jammer, der mir entgegenschlägt, will ich nicht sprechen.  Es gilt zu handeln.  So glücklich sind sie, als sie hören, daß alle ins warme Haus kommen sollen, wo heiße Milchsuppe schon für sie gekocht wird.  Die Mütter haben noch zu räumen.  So nehme ich die Kinderschar ins Schlepptau.  Achtzig kleine verfrorene Geschöpfe sind es, wie ich schnell überschlage.  Wie der Rattenfänger von Hameln komme ich mir vor, als ich mit dem langen Zug aufs Haus zugehe.  Nur mein Vorhaben ist nicht dasselbe.

Wie atmen sie auf, als ihnen die Wärme des Hauses entgegenströmt.  Den Jüngsten reibe ich die kleinen, blauen Gliedmaßen und lege alle gleich auf ihr Lager, weil dazwischen in den Gängen der Raum nicht reicht. Sie bekommen ihr Süppchen und Brot, wofür die Mütter Becher und Löffel mitbringen.  Für die Säuglinge werden die Flaschen gefüllt. Wenige von ihnen überstanden die Kälte bis hierher. Aber auch bei den Überlebenden haben Unbill der Reise und schlechte Ernährung schwere Spuren hinterlassen.  Wir versuchen mit Tee und Haferschleim zu helfen.  Viel gibt’s zu sorgen und für Frau Bobzin Unendliches zu kochen.  Durch den Aufzug verständigen wir uns leicht.

Es wird spät, bis alle gesättigt sind und jeder ein Lager gefunden hat.  Ich höre viel Husten unter den Kindern, sehe fiebernde kleine Gesichter. Die Untersuchung ergibt den für Masern typischen roten Ausschlag auf dem Rücken.  Schnell wird ein Quarantänezimmer eingerichtet, damit nicht alle angesteckt werden.  Als ich zur Diele zurückkomme, ist die Tür versperrt.  Vom durchlebten Schrecken ist ein Mann geistesgestört geworden.  Er tobt und weigert sich, den Platz vor der Tür zu verlassen. Von dem Weg über die Treppen bringe ich gleich zwei Schlafpulver mit, die wir ihm nur mit einem Glas Grog einflößen können, das ihm scheinbar ein heimatliches Getränk war.  Die Pulver tun ihre Dienste. (Am nächsten Morgen, ehe er ganz erwacht ist, kommt er ins Krankenhaus.)

Es tritt Ruhe ein auf der Thurower Diele, die die Alten und Kranken beherbergt.  Im Saal blicken die erstaunten Augen der Vorfahren auf ein enggedrängtes Gewimmel erschöpfter Mütter und Kinder herab.  Ich mache meinen letzten Rundgang und bringe noch kochende Milch mit Honig – denn der Husten hallt durch alle Räume.  Manch dankbares Kinderlächeln schon halb im Traum begleitet mich zu meiner späten Nachtruhe an diesem unvergeßlichen 1. Februar 1945.

1. April 1945

Nach diesem ersten Erleben wissen wir an jedem Abend, wenn die Turmuhr 6 schlägt: Jetzt kommen sie, die langen grauen Raupen der Trecks.  Sie bringen uns ihren Kummer, ihren Hunger, und ihr Heimweh.

Wir helfen, wo wir können.  Aber man möchte verzagen bei dem schweren Leid.  Von der Flucht übers Haff erzählen sie, der Russe ihnen auf den Fersen. Das Eis war mürbe durch Antau.  Wagen mit Menschen und Pferden versinken.  Mütter wissen ihre Kinder darin.  Säuglinge erfrieren, bleiben am Wege liegen.  Immer schneller geht die Flucht.  Die edlen Stuten sind den Strapazen nicht gewachsen, sie verfohlen zu Hunderten und brechen zusammen.  Wer den ostpreußischen Landmann kennt, weiß, wie sein Herz den Pferden gehört und fühlt mit diesem Elend.

Schwerkranke bringen sie. Die einzige Bitte auf den Lippen: “Laßt uns hier sterben.”  Für sie sind nun Betten im Wirtschaftshaus eingerichtet, denn im Gutshaus bevölkern noch die Esten die Fremdenzimmer, wenn ich sie auch zusammenrücken ließ, um für Verwandte und Freunde Platz zu schaffen.  Nun kommen sie von den Gütern aus Pommern und dem östlichen Mecklenburg, oft mit allen ihren Leuten.  Es gibt Trecks mit zehn bis zwölf großen Planwagen.  Die Gebäude fassen die Pferde oft nicht.  Der Hafer muß rationiert werden.  Der Rademacher heilt die vielen Schäden den Wagen die zusammenbrechen.

Thurow ist zum “Umschlagslager” ernannt.  Die Trecks dürfen nur ein bis zwei Nächte bei uns bleiben.  Die weitere Verteilung erfolgt von der Zentrale in Ratzeburg.

Nun heißt es für uns: “Landgraf, werde hart!”

Es ist nicht immer leicht, die Erschöpften nach so kurzer Rast weiter schicken zu müssen, nachdem sie glaubten, bei uns eine Heimstätte gefunden zu haben.  Aber die nächsten zweihundert, oft dreihundert, Menschen warten ja schon auf ihr Lager.

So geht es zwei Monate lang.  Die beiden Waschkessel mit Pellkartoffoln sind um Punkt 6 Uhr gar, denn nun sind die Pommern an der Reihe. Und was ein rechter Pommer ist, der braucht seine “Nudeln” zu seinem Glück.  Den Speck dafür haben sie selbst auf dem Wagen.

Von der Weiblichkeit greife ich immer ein paar größere Mädel heraus und übergebe ihnen die Regie der “Wasserwerke”.  (Wegweiser dahin sind nicht zu übersehen.)  Die Einrichtung hat sich bewährt.  Frisch gewaschen und gezopft kehrt das kleine Volk zurück, viel munterer als zuvor, oft schon zum Singen und Spielen aufgelegt.  Hebt bei einer Familie ein nicht enden wollendes Kämmen (endloses Kämpfen?) an, so bin ich im Bilde, und habe auch hierfür ein Radikalmittel.  Es erschüttert uns nicht mehr.  Denn wie sollte es anders sein?  Aber das Stroh wird oft gewechselt.  Nur dreimal hole ich mir von diesen Tierchen, die bei mir ihre Zelte bald wieder abbrechen.

15. April 1945

 Einquartierung rückt an.  Eine Kraftwagen-Reparaturwerkstatt wird in Thurow aufgeschlagen.  Alle irgend verfügbaren Gelasse müssen geräumt werden.  Tafeln verkünden den Zweck der Gemächer.  Der Saal ist “Geschäftszimmer”.  Die Diele wird uns als “Messe” bekanntgegeben.  Im Wirtschaftshaus kochen Soldaten für alle gemeinsam.

Bernhard ist aus Mestlin zurück, wo er und Gisa ähnliches erlebten. Jeden Abend laden wir abwechselnd eine Gruppe der Offiziere zu Tisch. Sie lassen die gedrückte Stimmung, die uns alle beherrscht, nicht aufkommen.  Major Voß gibt vorm Abrücken Gemeinschaftsabend im Saal, wozu auch wir gebeten werden.  Der Zusammenhalt der Truppe und ihre Haltung ist vorbildlich.

Trotz der herzlichen Kameradschaft, die die Offiziere ihren Leuten zeigen, nimmt jeder Soldat die Hacken zusammen, wenn mit ihm gesprochen wird und ist jeder bereit, sich nach Kräften an den Vorführungen zu beteiligen.  Ich versuche für Getränke zu sorgen.  Der Inhalt des Weinkellers ist längst vergraben und das Bier nicht mehr trinkbar.  Aber, mein Apfelmost fließt noch reichlich.

Die Darbietungen beginnen mit Löweschen Balladen unter Geigen – und Klavierbegleitung, dann lustige Vorträge und gemeinsam gesungene Volkslieder.  Daß auch “Erika” und “Annemarie” nicht unter den Gesängen fehlen, entspricht dem Gefühlsleben unserer Gästeschar.

Für uns ist es nicht leicht, immer fest zu bleiben.  Wir wissen, dies ist der Abschied von der Kameradschaft des deutschen Militärlebens und vom alten Preußengeist überhaupt.  Im Thurower Saal unter den Augen der Voreltern sollten wir dies erleben.

Aufbruch und fester Händedruck.  Im Morgengrauen verlassen sie den Hof mit ihren unendlichen LKWs, die mit Tannenzweigen getarnt in der noch kahlen Lindenallee für zwei Wochen Schutz gesucht hatten.  Von allen Seiten waren Autos zu Reparaturen herangebracht worden, und hatten Tiefflieger herbei gelockt.  Von früh bis in die Dunkelheit umkreisten sechs von ihnen täglich den Hof.  Verwundete und tote Pferde wurden gebracht. Für den ersten “unbekannten Soldaten” legten wir einen kleinen Friedhof im Mühlenholz hinter dem Garten an.  Aber, wie bald gewöhnt man sich auch an diese Gefahr.  Bernhard geht mit allen Kräften seiner Bestellung nach.  Der Garten wartet.  Der alte Stephan und ich lassen uns nicht stören, in dem was nun nötig ist, auch wenn die kleinen silbernen Vögel (die Tiefflieger) dicht über uns dahinhuschen.  Noch immer standen dem Landmann die Forderungen seines Ackers über der eigenen Sicherheit.  Ist es Euch anders ergangen? Und wird es nicht immer so bleiben?

Es zieht sich einem das Herz zusammen, über das zu sprechen, was nun folgt: Auflösung und Zusammenbruch.  Nicht nur der Truppen die auf uns zuströmen – nein – der Zusammenbruch der Ideale und Grundsätze, mit denen wir aufgewachsen sind, die unsere Eltern und Voreltern uns leuchtend vorangetragen haben, die wir für unumstößlich hielten. Die “Treue dem Eid” ist ausgelöscht.

In Scharen füllen sie Haus und Hof, die armen Gehetzten, führerlos, teils schon waffenlos, schlecht verbunden, mutlos, hoffnungslos. “Wehe dem Besiegten” steht es über allem was nun folgt.

Manches persönliche Erleben dieser Wochen möchte ich hier einfügen.  Ein paar Namen möchte ich nennen, die mir gerade im Gedächtnis sind, von den unendlich vielen Trecks von Freunden und Bekannten: Familie Hertz-Crien bis ins tausendste Glied, Frau von Tießenhausen mit vier Freierkindern, Rimpaus mit großer Pastorenfamilie, die alten Bredow’s-Zaschendorf auf ihrem kleinem federlosen Kastenwagen.  Ohne jede Habe sind sie dankbar für einen Beutel Weizenschrot vom Kornboden, von dem sie später sagten, daß er sie am Leben erhalten habe.

Wie leicht wurde es uns in dieser Zeit gemacht, Menschen zu beglücken.  Und doch, wie leer waren im Grunde unsere Hände.  Ihre Heimat können wir den Armen nicht wiedergeben. –

Manche von ihnen blieben einige Wochen und schliefen in ihren Wagen in den Scheunen.  Die Esten sind aus Angst vor dem anrückenden Russen bald entwichen.  Viele der Trecks hatten es eilig über den (Elbe-Trave) Kanal zu kommen aus demselben Grunde. Oft kamen sie zurück, weil die Kanalbrücken gesperrt waren. So geht es auch unsern fünf Storchenenkeln mit Frau v. Heintze und Frau von Buddenbruck mit drei Kindern.  Gabriele blieb mit vier ihrer Kinder eine Zeitlang bei uns. (Ingeborg, Heidi und Klaus wurden vorausgeschickt.)  Sie wollte noch einmal nach Leezen zurück, um zu ihrem Gut und ihren Leuten zu stehen. Aber die Zeit drängte. Bald müßten wir die kleine Schar über den Kanal schicken. Bis Rostock war der Russe schon vorgedrungen. Ein Katzensprung für ihn durchs kleine Mecklenburg.

In großer Sorge waren wir um Gisela.  Wir hörten von Offizieren der fliehenden Armee, die von Mestlin kamen, daß Gisa ihr Angebot, sie und die Jungens nach Thurow mitzunehmen, nicht angenommen hatte.  Sie wolle dort aushalten, bis sie mit den Leuten zusammen trecken könne, was die Partei bis zuletzt verhindert hatte.  Dadurch war es dem ersten russischen Überfall möglich – nachdem er einen deutschen Spiritustank leer getrunken hatte – wie ein wildes Tier in dem voll besetzten Gut zu hausen.  Wie durch ein Wunder wurde Gisela gerettet.

Eine Heiligengraber Schulkameradin kam am 30. April durch Mestlin, übersah die Lage und holte Gisa und die Kinder im Dämmern durch Hintertür und Kirchhofspforte in ihren Wagen und in Karriere entkamen sie, immer mit dem Gefühl, von einem Parteiauto verfolgt zu werden.

Dieses mutige Landkind spornte ihre vier Rosse selbst vom Sattel aus zu dieser Fahrt an.  Hut ab vor solchem Wagemut!

Selbst, daß vor Schwerin eine Brücke unter ihnen zusammenbrach, hinderte sie nicht, am Morgen des 1. Mai in Thurow zu landen.

Nie werde ich die Erlösung vergessen, die über uns alle kam, denn die Nachricht hatte uns schon erreicht, daß der Russe auf dem Marsch auf Goldberg zu von Fliegern gesehen worden sei.

Es gab nur die eine Frage:  “Wann wird er auch hier sein?”  Immer wieder wurde der Kanal als vorläufiges Endziel des russischen Einbruchs genannt.  So mußte nach kurzen Ruhestunden Gisas Fahrt weiter gehen.  Hans strahlte, nach fast einem Jahr seine eigentliche Heimat – Thurow – wiederzusehen.  Schnell wurden geliebte Plätze und vertraute Menschen aufgesucht, das alte Spielzeug mit Jubel begrüßt.  Wir Großeltern hielten noch jeder einen dieser glücklichen kleinen Buben auf dem Schoß.  Dann war das Gefährt startbereit.  Der Inhalt des kleinen Blücher’schen Wagens wurde zu Gisas “Flüchtlingsgut”, das wir in Thurow bewahrten, auf den großen Gummiwagen geladen.  Die erprobten vier Pferde wurden umgespannt.  Die kleine, drahtige Gräfin befand sich dann wieder im Sattel.  Und hinein ging es in die finstere Nacht, die nur die zielsicheren Bomben der Tiefflieger blitzartig erleuchteten.

Wir beiden stehen vor der Haustür, um uns ein Schwarm von Flüchtlingen, die mit den schwärzesten Vermutungen nicht sparen.  Unsere Stoßgebete begleiten den nächtlichen Zug.  Unsere Kinder sind uns sicherer in Gottes Hand als in den Fäusten der Russen.

Am nächsten Tag sind beide Töchter und ihre Kinder geborgen und freundlich aufgenommen bei Jansens in Steinhorst, die vor Jahren unserm Dietz den Auftakt gaben für seinen schönen Beruf.  Bis zum Juli bleiben sie dort, um dann weiter zu trecken zu dem alten Berckemeyer-Stammhof (bei Lengerich).

2. Mai 1945

Hell spiegelt sich in der Frühe die Maisonne im blanken Goldensee, ein Tag – wie geschaffen zum Freuen an Gottes Natur, zum Danken für seine Güte.  Der Flieder duftet, die Nachtigall schluchzt im dichten Gebüsch, alle Kerzen der Kastanien brennen und möchten Glück und Frieden strahlen in Dein unruhiges Herz.

Und wie sieht um uns her die Wirklichkeit aus?  Der Thurower Hof wimmelt von flüchtenden Truppen: LKWs brausen.  Verwundete erbitten unsere Hilfe.

Was werden die nächsten Stunden bringen?  Wer von den drei Feindmächten wird seinen Einzug halten?

Durch das Chaos zieht plötzlich ein schier endloser Zug von Wlassowtruppen (im deutschen Wehrdienst) ein.  Einzeln, aber in Marschordnung und bis an die Zähne bewaffnet, slawisch das Gesicht und tükkisch der Blick – nehmen sie Kurs durch die Wasserallee auf Dutzow zu.  Unsere Leute erfahren, daß sie sich an der Thurower Grenze (also an unserem Garten) verschanzen und dort kämpfen sollen. Einzelne Schüsse fallen, Tiefflieger brausen heran, Rauch- und Feuersäulen ringsum.

Ein junger Hauptmann (ein Münchner), der hier in Quartier ist, erbietet sich, als Parlamentär zum Engländer zu fahren, der schon Dutzow besetzt hält.  Wir können sein Vorhaben nur unterstützen.  Ein weißes Laken ist schnall beschafft und wird als Friedensfahne über den Kühler gedeckt.  In wenigen Minuten braust er durch die Wasserallee davon. Unsere heißen Wünsche begleiten ihn.  Wird er noch rechtzeitig kommen?  Wird durch den Wahnsinn dieser unglückseligen Wlassowtruppen unser schönes Thurow in Grund und Boden geschossen werden?

Minuten werden uns zu Stunden.  Da leuchtet der weiße Kühler auf. Zwei britische Parlamentäre entsteigen.

Unter den alten Kastanien, die vor mehr als hundert Jahren die Vorfahren gepflanzt, findet die kurze Verhandlung statt – umblüht von den fröhlichen Kissen des Steingartens und den Stauden, die ihre leuchtenden Farben zum blauen Maihimmel hinaufjauchzen.

Bernhard und ich sind bei der Besprechung zur Stelle und auch unsere Stimme wird gehört.

Die Waffen werden schweigen.  Die geliebte Heimat ist dem sicheren Untergang entrissen.  Der „Friede von Thurow“ ist geschlossen.

Über das, was nun folgt, möchte ich nicht viel Worte machen.  Bitterhart war es zu erleben: Das Entwaffnen aller Offiziere und Mannschaften.

Die abgenommenen Seitengewehre; auf der Eichenbank im Steingarten liegen sie, wie müde Krieger, aber noch in Reih’ und Glied.  Der Boden ist von Stahlhelmen bedeckt.  An allen Ästen hängen die Koppel[1]

[1] Koppel: deutscher Militärgürtel 

Es ist gut, daß es kein Besinnen gibt.  Erschöpfte und Verwundete wollen gepflegt sein.  Ein Bürschchen weint nach allem Überstandenen, leise vor sich hin. Ein kleiner Flakhelfer hilft uns allen und läßt wieder ein Lachen aufklingen. “Frau Chefin, wir haben einen Mordskohldampf!” Das war das erlösende Wort.

Alles bietet sich an, Kartoffeln herbeizuschleppen, zu schälen, Wasser und Feuerung zu tragen.  Konserven ergibt ein Fouragewagen.  Und es wird ein heißhungriges, dankbar empfangenes Mahl.  Auf allen zusammengetragenen Gartenbänken und zu ebener Erde soweit das Auge reicht.  Und wenn Du die Reihen überfliegst, so malt sich schon auf manchem jungen Gesicht die Freude, daß nun alle Schrecknisse überstanden seien und daß es heim geht zu Muttern.

Aber wir wissen noch nicht, wer Thurow besetzen wird.  Kann es auch jetzt noch der Russe sein?  Die beiden Engländer sind wieder abgebraust – mit dem Auto des deutschen Offiziers.  Vor der Abfahrt entdeckt der Captain darin einen Fußsack und wirft ihn aus dem Fenster, indem er mir lachend zuruft: “We are no robbers”.  Das Auto aber schienen sie als ihr rechtmäßiges Eigentum anzusehen!

Unser mutiger kleiner Hauptmann war zu seinem Truppenteil entronnen, ohne seine Adresse zu hinterlassen.  So bewahre ich diesen Fußsack zur Erinnerung an den Tag des “Friedens von Thurow”.

Ein großer Teil der “Entwaffneten” hat bald das Weite gesucht in der Hoffnung, daß nun nichts gilt als die Parole: “Heimat!”  Die Armen! Schon an der nächsten Kontrollstelle werden sie enttäuscht werden.

Zurück blieben ein paar LKWs mit unendlichen Schriften oder Bögen mit militärischen Vordrucken.  Bald bedecken sie den ganzen Hof – wie Neuschnee möchte man denken.  In einem Fouragebrotwagen ist noch ein Rest.  Er wird von den Polen gestürmt.  Ich kann nur noch sorgen, daß die Verteilung gleichmäßig geschieht.  Am Ende der Wasserallee ist ein Verpflegungswagen für Lazarette zusammengebrochen.  Die Fahrer, als sie das Verschanzen dort sahen, sind entwichen.  Ein Findiger unter unsern Leuten hat den Wagen mit so viel edlen Eßwaren wie Kaffee, Konserven usw. entdeckt.  Eine Wallfahrt mit leeren Säcken und Handwagen beginnt.  Auch unsere Flüchtlinge aus den Scheunen beteiligen sich in Scharen.  Ich sehe aus der Entfernung dem Treiben zu.  Ein Eingreifen nicht möglich.  Dafür ist die Habgier auf allen Seiten zu hoch gestiegen. Vielleicht bei manchen durch Hunger berechtigt.  Aber, wie immer auch hier, die lautesten Schreier hätten’s am wenigsten nötig.  Die lebende Illustration zu den Schillerworten:  “Da werden Weiber zu Hyänen”.

Bald ist alles geleert, die letzte Schubkarre in unserer Gartenpforte verschwunden.  Nur ein aufgerissener Sack blieb zurück auf diesem Tummelplatz der Leidenschaften.  Meine Untersuchung ergibt: Etwa einen Zentner gemahlenen Pfeffer.  Vor so viel Pikanterie war jeder zurückgeschreckt.  Ich will den Sack schon seinem Schicksal und dem aufsteigenden Gewitter überlassen – da sehe ich zwei von unseren Flüchtlingsjungens mit ihrem winzigem Ponywagen daherkommen, forsche kleine Kerle, die mit diesem Gefährt die Flucht gewagt hatten, wenn auch im Kielwasser des mütterlichen Trecks.  Ich rufe sie heran, und wir befördern zu dritt diese seltsame Last ins Haus.  Für meine Massenverpflegung kann ich seinen Inhalt gut gebrauchen.  Vielen Durchziehenden konnte ich helfen, für lange Zeit ihr flaues Tagessüppchen zu würzen.  Und die Dorffrauen kamen, wenn’s ans Schlachten ging mit ihren “Päpper” – Wünschen zu mir.  Ob es heut nach vier Jahren im deutschen Vaterland wieder Pfeffer gibt?  Jedenfalls habe ich noch Vorrat bis an mein Lebensende.

3. Mai 1945

Daß dieser Tag wieder neue Sorgen und Unruhen bringt, ist natürlich.  Von den Nachbargütern kommen Berichte, daß die polnischen Schnitter und russischen Gefangenen böse gehaust haben, daß sie die Rauchböden leer gemacht, die Gutshäuser beraubt, und mit der Waffe gewütet haben.  Wir haben unseren Arbeitern gegenüber kein schlechtes Gewissen.  Was wir möglich machen konnten, nach den Gesetzen und darüber hinaus, haben wir ihnen zukommen lassen, haben ihnen “nach vielen Kämpfen mit den Behörden” Arbeitskleidung verschafft, haben den Prämienzucker gerecht mit ihnen geteilt.  Am Heiligen Abend bekam auch jedes Polenkind seine Weihnachtsfreude.

Aber was die ausländischen Arbeiter auf ihren Lebensmittelkarten bekamen, war ja nur gering und, wer kennt die unterirdischen Kanäle der Verhetzung?  Wir beschließen, den besten jungen Ochsen zu schlachten und an sie zu verteilen, denn Verbote sind während dieses Interregnums aufgehoben.  Da kommt das Schicksal uns zur Hilfe.  Im Trubel der Ereignisse hat der Schäfer nicht bemerkt, daß sieben Schafe im frischen Klee plötzlich “dick” wurden und das Leben lassen müssen. In gutgenährter, schmackhafter Rundlichkeit werden sie mir in die Küche gebracht und ein fröhliches Verteilen an die Polen beginnt. Ohne jedes Vordrängen wartet jeder, bis die Reihe an ihn kommt und nimmt glücklich seinen Hammelbraten in Empfang.  Eine junge Polenfrau streicht meinen Arm mit den Worten: “Frau Gnädige, gut, gut”.

Unsere russischen Gefangenen sollen am nächsten Tag abrücken.  Ich frage vorbeugend, ob ich ihnen noch Speck als Proviant mitgeben soll.  Leise grienend kam die Antwort; “Danke, danke, schon von Bauer geholt”.

Das waren in dieser Zeit von Mord und Totschlag unsere Erlebnisse mit den eigenen ausländischen Arbeitern.  Und wir sind stolz darauf.

Aber viel verhetztes Polenvolk und entlassene Gefangene machen die Gegend unsicher.  Ein schwarzes Auto fährt vor mit feuerrotem Sowjetstern an der Tür.  Mit versagender Stimme sage ich: “Bernhard, sie sind da!”.  Aber, wie atmen wir auf.  Das Ganze ist nur ein “Scherz” dieser wilden Zelt und wir kamen mit dem Schrecken davon.

Bald halten die ersten amerikanischen Wagen vor der Tür.  Etwa zehn Bewaffnete stürmen ins Haus: “Wo sind Waffen, wo Revolver?” ist das eingelernte Deutsch, das sie stammeln können.

Der Gewehrschrank wird ausgeräumt, auch die uralten Waffen aus Urgroßvaters Zeiten, wofür es bestimmt keine Munition mehr gibt.  Nebenbei sind Ferngläser, Photoapparate, Federhalter beliebt.

Zum Verständnis des Folgenden muß ich den Werdegang erzählen: Seit dem Umzug aus Weisin vor Jahren war Bernhards Kriegsrevolver nicht zu finden.  Als die Russengefahr näher rückte, sorgte er für Ersatz.  Wir beide ließen uns von einem “Kenner” die Handhabung zeigen “für den letzten Notfall”.  Gut und sicher wurde er dann verwahrt.  So gut, daß wir im Tumult der letzten Wochen den Platz vergaßen.

Die Revolver-Razzia beginnt.  Was nicht sofort geöffnet, wird erbrochen. Bernhard wirkt unten mit einem Trupp, ich ebenso oben.  Plötzlich höre ich von unten erregte Laute.  Der vergessene Weisiner Revolver wurde von wühlenden Händen unter alten Briefen in Bernhards Schreibtisch gefunden.  Mit roten Köpfen reden sie auf den Schuldlosen ein: “And you said you don’t have any more arms?”.  Bernhard versucht nichts, sich zu rechtfertigen.  Sie werden ihm die Geschichte nicht glauben.  Auch ist er ihrer Sprache nicht mächtig.  Ich sehe, es sind primitive Menschen, hole sie unter einem Vorwand ins Eßzimmer zum Likörschrank und sie dürfen wählen.  Schon der Anblick besänftigt die Gemüter.  Zu ihnen an den Eßtisch muß ich mich setzen, mit unserem letzten schönen Curacao anstoßen.  Ihren Trinkspruch fassen sie in die klassischen Worte zusammen: “Pappa lies, Mamma is good!”

In aller Ruhe erzähle ich ihnen, in ihrer Sprache die Revolvergeschichte.  Der Zorn legt sich, aber die Suche geht weiter.

Wenn wir das Versteck des zweiten Revolvers nur wüßten, würden wir ihn angeben.  Aber alles geht so atemlos rasch, daß wir beide uns nicht verständigen können über das, was richtig ist.  Wenn wir uns aber widersprechen, dann sind wir verloren.

Mein Wäscheschrank wird dreimal durchwühlt.  Ein paar schöne Lederhandschuhe darin finden Gefallen.  In der Tasche seiner Uniform sollen sie verschwinden.  “It belonged to my son”, sage ich leise.  Da legt er sie still zurück und schließt die Tür: Die Suche ist beendet.

In diesem Schrank findet sich am Abend der Revolver.  Fast sichtbar lag er unter der losen Wäsche.  Ist es da noch möglich vom Zufall zu sprechen, oder wollen wir an einen Schutzengel glauben?

Als es dunkelt und alle Soldaten fort sind, machen wir zu zweien einen stillen Gang mit kleiner Schaufel zum Gebüsch am äußersten Ende des Parks.  Aber dieser Platz läßt mir keine Ruhe.  An einem der nächsten Tage wandle ich durch die Schar unserer Besatzung, am Arm einen gefüllten Blumen-korb, der für diesen duftigen Inhalt reichlich schwer ist.  Tief unten im Schilf, in einem stillen Winkel des Sees fand unsere letzte Waffe ihr Grab.

4. Mai 1945 und danach.

 Erleichtert erwachen wir am Morgen, froh, vom Amerikaner besetzt zusein.  Der Russe ist weit weg.  Er hat sich an der Linie Schwerin-Wismar festgesetzt.  Die Kontrollstreifen sind gewesen und man wird uns in Ruhe lassen.  Es wird Friede werden im Land und wir werden wieder ungestört unserer schönen Arbeit nachgehen können.

Ein strahlender Sonntag geht auf über unserem geliebten Thurow.  Durch alle Fährlichkeiten ist es bewahrt.  Dies soll ein “Tag des Herrn” werden, ein Tag des Dankes und der Ruhe.  Erst das erfrischende Bad in der schönen “Grüngekachelten”.  Ganz festlich möchte man sich anziehen zur Feier dieses großen Freudentages.

Plötzlich ein durchdringendes Hupen vorm Haus läuft Bernhard noch im Bademantel hinunter.  Der Dolmetscher bestimmt: “Sofort alle Deutschen das Haus räumen, es wird besetzt!”  Eine halbe Stunde haben wir Zeit.  Alle Flüchtlinge entweichen in Scheunen und Ställe.  Daß sie so “unbelastet” gingen, wie sie gekommen waren, will ich nicht behaupten.  Wir machen drüben im Wirtschaftshaus zwei kleine Stuben frei für Lüneburgs und uns.  Nun heißt es in so kurzer Zeit das Allernötigste zusammenraffen.  Vorläufig dürfen wir das Haus, Küche und Vorratsräume nicht wieder betreten.  Daß ich den Schlüsselkorb als beruhigendes Requisit mitnehme, ist illusorisch.  Alle Verließe, Schränke, Kommoden und Truhen finden wir später erbrochen, durchstöbert und zum Teil ausgeraubt wieder vor.

Frau Lüneburg kocht in dem kleinen Raum, wo sie mit ihrem Mann und zwei Kindern haust, für uns alle.  Der einzige Zugang führt durch unser Gemach.

Unsere fünf Störchlein (die Familie von Storch, aus Parchow) mit allem Zubehör (neun Personen) kommen mit zwei großen Treckwagen zurück aus Steinhorst, weil die Russengefahr vorläufig beseitigt erscheint.  Sie erzählen Räubergeschichten von Polen, von denen sie am Thurower See mit gezücktem Revolver verfolgt und mit Messern beworfen wurden.  Durch einen erschossenen Flüchtling, dessen Leiche uns am nächsten Tag gebracht wird, ist die Gefahr bestätigt worden, in der sie geschwebt haben. Wir begraben ihn auf dem stillen Fleckchen im Mühlenholz. Keine Behörde, keine Polizei fragt in diesen Tagen der Verwirrung nach dem Woher und Wohin eines Toten.

Für längere Zeit muß der ganze Storchentreck in der Scheune sein Obdach finden.

Sehr heiße Tage kommen in unserem Südzimmerchen unter dem Pappdach.  Die Fliegenplage ist schwer erträglich.  Nebenan, in meiner Waschküche sind “Mutter und Kind” in Scharen untergebracht.  Acht Nächte lang ertragen wir mit zusammengebissenen Zähnen und möglichst guter Miene nächtliches Geschrei und Gerüche, den Druck der Verhältnisse und daneben die Verantwortung für dies ganze furchtbare Durcheinander.  Wie lange werden die Kräfte aushalten?

Die “Kaffeehütte” steht so verlockend vor unserm Fenster.  Auf dem Boden finden sich große Papplatten und ebenso ein Mutiger, der sie durch die Besatzung hindurch herunter holt.  Die hilfsbereite pommersche Bauernfamilie Hilpert zimmert uns ein kleines Gemach zurecht, wo wir in stiller Abgeschiedenheit die Nächte verbringen können.  Das fehlende Tageslicht haben wir mit den Schildbürgern gemeinsam, doch so viel ich erinnere, haben wir nicht versucht, es in Säcken hereinzutragen.

In den Tagesstunden dürfen wir bald ein paar Zimmer im Hause benutzen, weil für Bernhard die Wirtschaftsführung ohne den Inhalt seines Schreibtisches, Telefon usw. nicht möglich ist. Aber am Abend entweichen wir noch wochenlang im Bademantel in unsere “Albergo”.  Stehen wir früh auf, so können wir uns an dem Anblick eines schlafenden Yankees auf jedem Sofa unserer Wohngemächer erfreuen.

Ein uns wohl gesinnter Sergeant schafft Ordnung unter ihnen, läßt den Hof durch Flüchtlinge von seiner Papierfülle reinigen.  Und auch für uns gibt’s manche Erleichterung.

Nach der Razzia auf unzählige Faltboote (Restbestand von der Deutschen Wehrmacht), die aber schon zum Teil in Gummischürzen verwandelt worden sind, läßt er unseren Storchen-Enkeln zwei Boote (zum Spielen) zurück.  Sie waren lange ihre ganze Freude gewesen.  Dann rücken die Amerikaner ab.  Was sie aus den erbrochenen Behältnissen nahmen, verschmerzen wir.  Aber daß sie aus dem auf Befehl des Sergeanten zurückgegebenen Radios die sechs Röhren mitnahmen, ist hart, denn nun sind wir ganz von der Welt und ihrem Geschehen abgeschnitten.  “In two days, the Russians will be here”, ist ihr beruhigender Abschiedsgruß.

Aber weiter brausen amerikanische Autos auf den Hof querbeet über das “Rondell” mitten in die Rhododendren hinein, die nun ihren Höhepunkt haben.  Sonst immer für uns der schönste Anblick des Jahres, wenn das Sahne-farbene Haus watet im Hell-Lila des Blütenmeers!  Doch den Park lasse ich durch Flüchtlinge, die dafür Eier und dergleichen bekommen, weiter sorgsam pflegen mit dem Gedanken, daß allen denen, die im Chaos und in der Bohème leben – irgendwo etwas Geordnetes und ein Ruhepunkt sein möchte.  Auch in der Hoffnung, daß Gepflegtes mehr Schonung findet …

So wallt es stündlich durch unsern Garten.  Die Flüchtlinge der Nachbarschaft prägen das Wort: “Der Thurower Kurpark”.  Auch für sie ist er Attraktion.  Immer sind alle Bänke besetzt.  Dazwischen lagern Amerikaner, oder sie kommen auf armen, schweißtriefenden Trakehnern um alle Ecken geflitzt.  Die zahlreiche Storchenfamilie hat die Küchenregion des Hauses bezogen, wo sie nun schalten und walten kann.  Für uns ließen wir einen kleinen Herd neben Bernhards Schlafzimmer stellen.  Frau Hilpert sorgt in aufopfernder Weise für uns.  Frau Bobzin und die Mädchen haben wir in dieser Zeit der unbegrenzten Ungewißheiten zu den Ihrigen geschickt.  Denn sollte der Russe kommen, so ist es für sie nicht erstrebenswert, Nutznießer “von Junkers Gnaden” zu sein.  Für die Gemeinschaftsküche findet sich bald Ersatz. Sehr beliebt bei den Flüchtlingen ist mein schöner, neuer Hühnerstall.  Die Legenester sind Wäsche- und Speiseschränke.  Die Kotbretter (verzeiht das harte Wort), blitzblank gescheuert, sind die brauchbarsten Waschtische.

Eine Anzahl Offiziersfrauen – gemeinsam geflüchtet – beziehen mit Freuden dies Dauerquartier, geführt von einem Hauptmann mit Beinprothese.  Eine von ihnen, Frau Kule, erbietet sich die Flüchtlingsküche zu übernehmen, was für mich eine große Erleichterung ist. Nachdem ich ihr einziges lila Fähnchen durch ein paar Waschkleider (aus blaukariarten Bezügen) ersetzt habe, schwingt sie den Kochlöffel mit Hingabe und Kennerschaft.  Am Morgen, zu bestimmter Stunde gebe ich ihr alles aus und kann mich darauf verlassen daß die Leute es gut haben.

Meine sechzehn Spargelbeete (nun vierjährig) bringen reiche Ernte.  Und wieviel Freude kann man damit machen! Die Trecks, die wieder täglich kommen, bringen viele Verwandte und Bekannte aus dem alten Heimatland.  Sie haben die Russeninvasion durchlebt und berichten grausige Dinge.  Die Nachrichten sickern durch von den armen Menschen, die ihre Familie und sich erschossen, als der Russe anrückte, von den vielen, die den meuternden Gewehren zum Opfer fielen.  Und wieviel Vettern, Freunde und liebe Bekannte sind unter ihnen?

Können wir so viel Kummer und Herzeleid denn ertragen?  Müssen wir nicht darunter zusammenbrechen?  Wir, wie alle ganz gesunden Menschen, haben eine Grenze des Empfindens.  Dafür wollen wir dankbar sein. Viele von den Armen, die in der Erregung den Freitod suchten, hatten dies Grenze nicht. Es sind nicht die Schlechtesten, oft die Mitfühlendsten unter unsern Brüdern und Schwestern gewesen.

Unsere Arbeit hilft uns an jedem Tag wieder von neuem hindurch.  Bernhard ist froh, sich endlich wirtschaftlich rühren zu können, wenn auch das Fehlen der Polen und Gefangenen sehr fühlbar ist.  Müde kleine Flakhelfer und erschöpfte Soldaten aus den verschiedensten Berufen, die nach der Heimat trachten, sind kein tatkräftiger Ersatz.  Die armen Rüben, die Futterbasis für den Winter, ertrinken in Unkraut.  Später hilft uns der “Höchstkommandierende”:  “Wir ordnen an” wird in großen Lettern angeschlagen.  Und das schlägt durch.

Klee wächst in gesegneten Mengen.  Und so gibt Bernhard einen Schlag frei für die vielen Flüchtlingspferde.  Auch aus der Nachbarschaft kommen sie mit ihren Sensen.  Denn wo gibt’s noch Hafer im abgegrasten Lauenburger Land?

Als aber die Dutzower und Klein-Thurower Flüchtlinge sich mit leeren Schalen und Löffeln auch an meiner Küchentür einfinden, spricht der Gutsherr ein Machtwort.  Von den jungen Leuten sollen nur die, die in Thurow arbeiten, verpflegt werden.  An jedem Mittag und Abend gebe ich gestempelte Scheine aus.  Die Alten und Kinder bekommen Dauerkarten.  So stehen vor jeder Mahlzeit lange Schlangen an unserer Waschküchentür, denn weit über hundert Personen sind noch täglich zu sättigen.  Mancher Ochse (sprich alte Kuh) wandert in die Waschkessel.  Ob wir es dürfen? Ihr könnt ja schweigen!

Das Brot wird für alle Thurower (im Dorf, Haus, Scheunen und Ställen) vom Hof aus geholt, wofür Scheine von der Besatzungbehörde nötig sind.  Frau von Buddenbruck übernimmt die Ausgabe.  Die Butterpäckchen am Wochenende verteilt der Chef in eigener Person, denn es gehört schon kalte Schulter und ein gelegentliches energisches Durchgreifen zu diesem Beginnen.  Im Wirtschaftshaus werden zusätzlich drei Herde aufgestellt.  Alle “fahrenden Leute” können dort ihre heimatlichen Gerichte mit den Schätzen aus den oft unergründlichen Tiefen ihres Planwagens herstellen.  Habt Ihr eine Vorstellung, was für Wünsche von morgens bis abends an uns herantraten?  Kaum lassen wir uns blicken, so ist ein Schwarm von Bittstellern da.  Näheres erübrigt sich, denn den Ärmsten fehlt ja alles, vom Nagel bis zum Zahnwehmittel.

In meinen Aufzeichnungen finde ich aus diesen Wochen die Worte: “Die kleinen Enkelinnen kommen gelaufen, sobald sie mich sehen.  Doch oft reicht die Zeit nur, ihnen einmal übers Haar zu streichen oder schnell mit ihnen zu den kleinen Küken oder Erdbeeren zu gehen.  Die Jungens genießen die Zeit der schulelosen Ungebundenheit in vollen Zügen.  Für uns bleibt nur die Sorge, sie könnten verwildern.  Bei dem unkontrollierbaren Umgang könnten bei der vielen Munition, die überall herumliegt und der ihr höchstes Interesse gehört, zu Schaden kommen.  An jedem Abend, wenn ich sie friedlich in ihren Betten weiß, bin ich froh, daß wieder alles gut gegangen ist.  Vorher gibt’s bei den Großeltern noch ein Glas Saft und fröhliches Erzählen von den Tageserlebnissen, die am “chicsten” waren.  In meinem Bereich führe ich ein, daß des morgens 9 Uhr jeder, der Verlangen nach Gemüse und Obst hat, im Garten antritt; anschließend die Anliegen an häusliche Vorräte, Fleischkeller, Medizinschrank usw.  Spätere Wünsche werden nicht berücksichtigt. Daß alles geschenkt wird, ist selbstverständlich, denn womit haben wir es verdient daß wir nicht auch an andern Türen stehen müssen?

Bald hat es sich eingespielt, und ich kann des Nachmittags nach alter Weise in unserm kleinen Gefährt mit Bernhard zu Felde fahren, und mich mitfreuen an der schönen Ernte, die die Felder versprechen.  Jetzt, nach fast zehn Jahren, und Bernhards unermüdlichen Fleiß ist Thurow auf seinem höchst möglichen Gipfel der Bodenkultur angelangt.  Ein günstiges Frühjahr kommt dazu.  Wir können der bisherigen Rekordernte entgegen sehen.  Aber wieder lauert ein Feind an den Toren: Die typhöse Ruhr.  Sie wurde von Soldaten aus Rußland eingeschleppt und unterstützt von der mangelnden Hygiene, durch wohl verzehnfachte Übervölkerung.

Auf allen Gütern sah man dasselbe Bild.  Es ist gut, daß fast jede Ortschaft ihren eigenen Arzt unter den Flüchtlingen hat. Aber wie sollen sie helfen ohne Medikamente?  Zu uns kommt der tüchtige Dr. Gerhard aus Dutzow.  Er schwört auf Kamillentee bei dieser Krankheit, unser altes Mittel aus Großmutter Lenes Zeiten! “Hätte ich nur ein Pfund davon! Ich würde Tausende dafür geben,” war sein Stoßseufzer.  Als ich ihm dann eine große Tüte Kamillentee bringe, den wir nach alter Tradition an jedem 20. Juni in Mengen pflücken ist er glücklich.  Seine “Tausende” kann er anderen Zwekken zuführen.  Aber unermüdlich hat er sich für alle Thurower Kranken eingesetzt, ob im normalen Bett, im schwer zu erkletternden Treckwagen, oder in dunklen Scheunenwinkeln. Unter denen schwer davon Betroffenen machen uns die Enkelkinder große Sorge.  Als eine der Letzten muß auch ich dran glauben.  Bei hohem Fieber sehe ich das Leben nur noch wie durch einen Schleier vorüberziehen.  Da wecken mich Bernhards Worte aus der Erschöpfung: “Du mußt Armgard (von Storch) zu Dir nehmen.  Sie stirbt uns sonst unter den Händen.” – Wir sind zusammen bald gesund geworden. Der gleiche Funke von Lebensenergie liegt wohl in uns beiden.  Auch der “Schelm im Sinn” hat sich vererbt.  Und wenn wir Hand in Hand durchs Dorf gehen, sagen die Leute: “De Lütt is Fru Berckemeyer – ganz und goar.”  Auch mir kommt diese jüngste Enkelin oft vor, als wäre sie aus die Brützer Kinderstube gegriffen.

Es melden sich wieder Gerüchte eines Russenausbruchs.  Lüneburgs türmen, und der Storchentreck zieht auch ab unter Führung von Herrn von Buddenbruck weiter über den Kanal.  Auch die Kule-Ära im Wirtschaftshaus nimmt ein Ende.  Inspektorpaar Giese wohnt und wirkt dort, mit Gerda Kabelmachers Unterstützung.  Auch mein kleines Stubenmädchen kommt aus Goldensee zurück.  So ist der Pendelverkehr für unsere Mahlzeiten möglich.  Auch zu lachen gibt’s oft, wenn man die Augen offen hält!  Eine Hundetante hat ihren siebzehnköpfigen Zwinger den Russen aus den Zähnen gezogen.  Wir müssen für vornehme Unterkunft dieser schnauzbärtigen Geschöpfe sorgen, zu deren Bewachung sie selbst die Nächte vor der Tür des Zwingers bei Mutter Grün verbringt.  Ein gefallenes Roß ergibt die Ernährung.  Das Fleisch wird in Streifen geschnitten – und flatternd auf der Wäscheleine getrocknet.  Ich will auf eiligen Wegen schnell vorüber. Aber erst soll ich bewundern.  “Ja, sehr niedlich,” damit finde ich meine Ovation getan. Aber nun führt ein Hagelwetter über mich her: “Niedlich sagen Sie zu meinen wunderbaren Rassetieren?  Niedlich?  Bildschön sind sie, einzig dastehend”.  Und eine Stammbaumskala ergießt sich, die – wie mir scheint – in der Arche Noah ihren Ursprung hat. Von nun an mache ich einen weiten Umweg, wenn der Gemüsegarten ruft.

Meine hilfsbereiten Handlanger beim Pfeffersack wachsen sich zu kleinen Unholden aus.  Um Mitternacht poltern sie die Treppe herauf.  Mit der Geschwindigkeit, die nur der Zorn gestörter Nachtruhe verleiht, ist der Hausherr auf dem Flur, und die Backpfeifen sausen um ahnungslose Ohren.  Am nächsten Morgen, der tiefgefühlte Dank einer machtlosen Mutter kommt unerwartet.

Inzwischen sind wir sang – und klanglos britisch geworden.  Noch ist es uns gelungen, eine größere Besatzung aus dem Hause fern zu halten.  Es genügt, ihnen anzudeuten: “The water isn’t good in this house. You see: All of us are sick …”  Es wird uns nach allem Überstandenen nicht schwer, bei solchen Verhandlungen einen von Krankheit erschöpften Eindruck auf die bazillen-ängstlichen Gemüter zu machen.  Aber der forsche Adjutant eines Colonels rückt an, und läßt sich hierdurch nicht einschüchtern.  “Unser Wasser bringen wir mit,” sagt der Dolmetscher triumphierend.  Der Oberst erscheint, und ich bin vom offenen Fenster aus unfreiwilliger Zeuge der folgenden Unterhaltung: “Yes indeed, a nice waterplace. Look at the flowers, and the lawn we will have for our play.” “And the house, isn’t it comfortable?” weiß diese Prachtausgabe von einem Adjutanten noch zu unterstreichen.  Wir sind zur Strecke.  Thurow hat mit seiner Schönheit und Gepflegtheit sich selbst das Grab gegraben. –

Mit höflichem, aber energischem Ton gibt der Adjutant zu verstehen, das Haus müsse von allen Zivilpersonen geräumt werden.  Es sei Vorschrift.  Und sie würden mit achtzig Offizieren und Mannschaften einziehen.  “That’s my death,” ist das Einzige, was ich mit halber Stimme hervorbringe.  Die Nächte in der Hitze bei den zehn schreienden Säuglingen und den Milliarden von Stechfliegen schießen mir durch den Sinn. Die Pappwand um die Kaffeehütte fiel Gewittergüssen zum Opfer. –

Über die Züge des Allgewaltigen geht ein menschliches Rühren.  Dem Adjutanten gilt der kurze Befehl: “Come let us look for the rooms.”  Wir verharren in banger Erwartung und sind glücklich, als uns die drei oberen Zimmer im Ostflügel mit kleinem Badezimmer und Balkon angewiesen werden.  In überströmender Freude über diese unerwartete Güte will ich mit einem herzlichen „thank you very much“ dem Oberst die Hand geben.  Er legt die Seine rasch auf den Rücken.  Könnt lhr nachfühlen wie es für mich war: im eigenen Hause diese Kränkung? Später erfahre ich, daß es Vorschrift ist, keinem Deutschen die Hand zu geben.  Und so durfte er in Gegenwart seiner Untergebenen sich diesem Zuwiderhandeln nicht aussetzen.  Aber nie wieder habe ich einem Offizier der Besatzung die Hand gegeben, auch nicht als nach dem Fraternisierungsgesetz sie um unser Entgegenkommen warben.

Unserm Colonel, der dann mit seinem großen Stab viele Wochen in Thurow blieb, habe ich es nicht nachgetragen.  Als er mich bittet, ob mein Gärtner einmal in der Woche die Vasen füllen könne, sage ich nur “mein Gärtner sei ich selbst, aber ich wolle es gern übernehmen”.  So habe ich einen Grund, jederzeit durch unsere Gemächer zu gehen und dem Waiter manchen Wink zu geben.  Sobald eine neue Obstsorte (Erdbeeren, Kirschen usw.) reif wird, stelle ich eine große Schale davon auf den runden Tisch im Saal – als Zeichen was nun “up to date”.  Der Dankesbesuch des Verpflegungsoffiziers, der nie ausbleibt, zeigt, daß die (zivile) Lebensart im feindlichen Lager nicht ausgestorben war.

Auf allen Gütern der Nachbarschaft wird Gemüse und Obst requiriert.  Aber unser Garten scheint ihnen heilig. Auch die Truppe klettert nicht über Hecken und Zäune.  Als Einrichtung für unsere drei Zimmer haben wir nach Belieben aussuchen dürfen.  Und so ist’s behaglich geworden in unserem unfreiwilligen Altenteilchen.

So manche Erinnerung knüpft sich an diese Ecke des Hauses.  In Bernhards Kindheit hat die von ihm sehr geliebte “Tante Agnes” mit Fräulein Karthaus diese Zimmer bewohnt. Später waren sie Schlafzimmer der Eltern. Gisas kleines Reich ist es gewesen.  Unser Hänna (Hans Behm) kam im Kriege darin zur Welt, allein von seiner Omama in Empfang genommen.  Es war nicht das erste Mal für mich. Eine Großmutter plus Landfrau muß alles können.  Weiter brandet viel Leid, aber auch manche Freude bei uns.  Einem Sohn Hertz, der über das Schicksal seiner Mutter in großer Sorge ist, können wir den Weg zu ihr weisen.  Später kommt sein Vater, für uns der traurigste Eindruck dieser Zeit: Bei unserer abendlichen Rundfahrt kommt auf der Chaussee eine erschöpfte, wankende Gestalt auf uns zu: die Uniform zerrissen, der ganze Mensch mit dem Leben fertig.  Bernhard erkennt ihn, seinen Freund Gustav Hertz.  Vor wenigen Monaten war er noch bei uns.  Eisern zu seiner Truppe stehend, trug er den seltenen Titel “Oberst der Reserve” mit Stolz.  Der fast sechzigjährige hatte sich in seiner glühenden Vaterlandsliebe zur Verfügung gestellt.  Achselstücke und Ritterkreuz waren heruntergerissen und in den Schmutz getreten, ebenso wie sein Lebensmut.  In Thurow will er nach seiner Familie fragen.  Und wenn er Schlimmes erfährt, ein Ende machen. Wir sind glücklich, ihm sagen zu können, daß seine Frau und alle vier Söhne leben. Wir fahren ihn nach Hause, sprechen ihm Mut zu, pflegen und kleiden ihn.  Und nach wenigen Tagen ist er so weit, zu seiner Familie nach Steinhorst überzusiedeln.  Er bleibt nicht der Einzige, dem wir an der Grenze seiner Kraft zu neuem Leben helfen können.

Drei Weisiner kommen (zwei Dunker und Maykopf), ehemalige Spielkameraden unserer Jungens.  Sie sind glücklich über bekannte Gesichter, über Unterkunft und ländliche Arbeit.  Ein Gast dieser Zeit ist auch Ministerpräsident Stratmann aus Schwerin.  Er will in Hamburg versuchen, das ganze Mecklenburg vom Russen frei zu bekommen, als Ernährungsbasis für den britischen Stützpunkt Hamburg.  Wenig hoffnungsvoll kommt er von dort zurück.  Sein blankes Staatsauto und adretter Chauffeur muten eigenartig an in dieser Zeit der Verwahrlosung.  Marliese und Barbara Hartwig sind erschüttert von der Nachricht, daß ihre Eltern in die Hände der Russen gefallen sind. Hier erfahren sie daß beide in einem Waldlager bei Schwerin lebend gesehen wurden, dann aber nach Daschow zurückgekehrt sind.

Zu uns ins Haus werden alle Fremden unter Bewachung – und kurzfristig gebracht.  Nur Ehepaar Professor G.. wird seßhaft (auf dem Kornboden mit unseren Möbeln installiert).  Sie haben das besondere Wohlwollen des Colonel, weil beide große Reiter vor dem Herrn.  Nach ihrer Wahl dürfen sie zehn Trakehner Remonten aus Perlin holen.  Für Bernhard eine neue Belastung, für mich eine täglich neue Freude diese meisterlich gerittenen, edlen Tiere in der Reitbahn oder schon in der Frühe vor meinem Fenster zu beobachten.  Bald macht der Oberst mit.  Aber man muß immer fürchten – die kleinen graziösen Katzen – brechen unter seiner Kolossalfigur zusammen.  Auch wird man bei der englischen Art zu reiten an Cowboys der Prärie erinnert.  G.’s suchen auch mit uns Tuchfühlung.  Er war Medizinmann an der Königsberger Universität, bietet Bernhard Spritzen an gegen Arthritis, wovon er “zufällig” noch sechs Stück bei sich habe.  Mein leichtgläubiger Gatte läßt sich betören.  Jeden zweiten Abend erscheint die Königsberger “Größe” mit allem therapeutischen Zubehör.  Eine Schale Erdbeeren und ein ausgegrabenes Moselfläschchen halten uns beisammen.  Auch seine Amazone, die bessere Reiterin von beiden, ist einmal dabei; und die Trakehner beherrschen die Unterhaltung.  So fällt es nicht auf, daß von Verflossenem und von Politik nicht gesprochen wird.  Auf unsere Vorschläge, sich doch an der Kieler Universität zu melden, geht er nicht ein.  Auch da merken wir Ahnungslosen noch nichts und kommen nicht auf den Gedanken, daß wir für unsere gastliche Aufnahme später bitter büßen müssen.  Gesagt sei hier nur daß die Spritzen und ihre “Zufälligkeit” als Fehlzündung zu buchen sind.

Gabriele und Gisela mit zwei Kindern kommen zum ersten Mal im Lastauto für kurze Stunden aus Steinhorst.  Große Wiedersehensfreude, und des Erzählens nimmt kein Ende.  Als Gabriele mit Helga und Hans am 30. Juni wiederkommt, trifft sie einen kritischen Tag.  Wir sind mit ihnen und zahlreicher Familie von Dr. Eberhard im Gemüsegarten, um ihre Körbe mit Früchten zu füllen.  Da kommt ein Reiter an den Zaun mit der Meldung, das restliche Mecklenburg würde für die Russen geräumt.  Um 6 Uhr sei die Übergabe.  Die Eberhards jagen mit ihrem Ponywagen davon und können noch sich und ihre Sachen aus Dutzow in die britische Zone retten.  Das Steinhorster Auto, mit dem Gabriele gekommen war, ist in Mecklenburg und will sie erst um 6 Uhr wieder abholen.  Daß wir mit Gabriele und den Kindern noch friedlich zum schwarzen Kirschbaum im Seegarten gehen ist ein Zeichen, wie sehr wir an derartige Revolvernachrichten gewöhnt sind und wie uns das Leben auf diesem Vulkan abhärtete.  Hans wird als Posten auf den Hof gestellt. Und kurz vor sechs Uhr ertönt sein Ruf, wie eine Fanfare: “Das Auto kommt!”  Schnelles Einsteigen in den mit Verwundeten gefüllten Wagen. Sie sind vor dem Russeneinfall aus dem Gadebuscher Lazarett entwichen, haben am Wege gekniet und um Mitnahme gefleht.  Das Auto saust davon und kommt mit einigen Remenissen gut an.

Am nächsten Morgen schneidet der russische Schlagbaum unsere an allem so unschuldige Wasserallee in zwei Teile.  Das Dorf und die Scheunen leeren sich.  Die Nähe des Sowjetsterns schreckt.  Hier am Hause wagen sie noch keine Übergriffe.  Auf der Koppel fern der Heimat wird täglich eine volle Milchkanne vom Russen geholt, und am Abend leer zurückgebracht.  Als der Oberschweizer Bezahlung verlangt kommt die Antwort: “Bauer soll selber kommen!”  Da “Bauer” aber nicht selber kommt, setzt sich dieser Paternoster-Betrieb ungestört und unbezahlt lange Zeit fort.  Nicht überall an den Grenzen sieht’s so friedlich aus. – Eine junge Krankenschwester nahmen wir auf unsern Wagen und lieferten sie an einen in ihrer Richtung fahrenden Treck ab.  Sie war halb krank vor Angst, hat sich nur mit hundert Zigaretten loskaufen können.

Das Dutzower Schloß ist mit dortigen Tagelöhnerfamilien voll gestopft.  Die Katen sind aber von Russen bezogen.  “Wir Bolschewisten wohnen nicht in Schlössern.” – Auch ein Stolz!

Aus diesen Tagen finde ich folgende Aufzeichnung:  “Viel dunkle Gestalten kommen in Thurow angeschlichen, die noch in dreizehnter Stunde hinter Gräben und Knicks versteckt geflohen sind.  Frauen mit hängenden Haaren, die sich das Gesicht schwarz gemacht haben, um den Russen zu mißfallen, brechen in nicht zu beruhigendes hysterisches Lachen aus, als sie hören, daß alle Gefahr vorüber ist und daß sie hier ungestört übernachten können.”

Ein Amputierter ist mit einem Bein von Schwerin bis hierher gehinkt (richtiger gesagt: gehüpft).  Ein nacktes Kind auf Kleeheu undgescheuert, das waren die Eindrücke, als ich am Abend des 1. Juli auf der Sonnenbank sitze, während Bernhard wieder in den Scheunen Raum schaffen läßt für weitere Scharen von Geflohenen, die aber bald weiter trachten in sichere Gefilde.  Ernst Albrecht will in den letzten Junitagen seine Frau aus Hohenholz zurückholen, ein paar Generalinnen an Bord, die er zum sicherem Hafen einschiffen will.  Er kommt durch Thurow. Sein guter Stern hält ihn im Hause seiner Schwiegereltern fest.  Bald dringen die Nachrichten durch, daß im Brützer Hause alles devastiert ist.

8. Juli 1945

Das erste Treffen der Höchstkommandierenden aus West und Ost findet in Groß-Thurow statt.  Es ist das Einzige geblieben.  Schon ein paar Tage vorher war alles vorbereitet, als das “Njet” der Russen eintraf.  Aber für den 8. Juli erklärte sich der Iwan bereit.  Umfassende, atemlose Vorbereitungen beginnen: Das Anstreichen von Zäunen und Bänken, Spannen von Leinwandstreifen um den Rasen vorm Haus, Pflanzen von leuchtenden Begonienbeeten, ganz unmotiviert an der Einfahrt.  (Sie verwelken am nächsten Tage).  Der Oberst ergreift selbst den Rasenmäher, ob aus Sport oder Nervosität bleibt verborgen.  Ich stifte außer einer Blumenfülle drei Kapaunen, die mit Freuden als besondere Finesse begrüßt werden. Der Waiter erbittet Silber, vor allem Fischbestecke.  (Ob deren Handhabung und ihre Unerläßlichkeit jedem der Gäste wohl geläufig ist?)  Im Übrigen bin ich froh, daß mir die Regie dieses Festes nicht obliegt!

Unzählige Panzer fahren auf, große Ehrenkompagnie, das Hissen der beiden Flaggen in der Mitte des Rondells.  So flattert auch der Sowjetstern über Thurow.  Etwa dreißig britische und russische Offiziere, Generäle, Feldmarschälle, ein langer hagerer Schottengeneral im kurzen Röckchen – alle in deutschen Elite-Autos – brausen an.  Unser Oberst ist ihnen in einer Art von Zuckeltrab bis zur Einfahrt entgegengelaufen. (Wohl eine britische Empfangsehrung?)  Ein schottischer Dudelsack spielt die Nationalhymnen.  Es folgt das Abschreiten der Fronten und Überreichen von Riesenblumensträußen.  Dann entschwinden sie unseren Blicken in der Haustür unter unserem Berckemeyerwappen.

Wir haben Geschichte erlebt, aber welch traurige Geschichte für unser Vaterland.  Vom nahen Gebüsch aus haben wir in der Verschwiegenheit alles beobachtet, weil der Colonel uns persönlich gebeten hat, nicht zu zeigen daß wir im Hause wohnen, was wir bei so wichtiger und offizieller Sache verstehen.

So schleichen wir uns erst nach oben, als ihre zehn Gänge sie fesseln und hören bei offener Saaltür und Fenstern wie die Stimmung in Anbetracht umfangreicher Weinfässer höher steigt, und schließlich bei den “Bundesbrüdern” in wieherndes Gelächter ausartet.  Vor allem das Röckchen des Schottengenerals erregt ausfallende Heiterkeit: “a woman, a woman,” radebrechen sie schallend.

Als Tafelmusik spielt der Dudelsack fast ausschließlich: “Lilli Marleen”, wahrscheinlich auf Wunsch, vielleicht aber auch sein ganzes Repertoire.  Acht Offiziere (vor allem russische), mit Leica bewaffnet, photographieren die Gruppen an der Saaltür, den Garten und anderes.  So wird unser Thurow durch die russischen Kinos und Zeitungen laufen, ein Gedanke zum Gruseln.

Auch ohne den Unterschied der Uniformen hätte man die Nationalitäten erkannt.  Schlank und sportlich, mit rassigen Gesichtszügen die einen. Die andern – anders …

Als die Stimmung am höchsten ist, brausen sie ab.  Es tritt wieder Ruhe ein im alten Thurow.  Der Oberst fällt erschöpft in einen Sessel auf der Terrasse.  Still gehe ich durch das Trümmerfeld unseres Hauses, das sie hinterlassen haben.  Ich trete auf zerfetzte Sträuße, stolpere über leere Gläser, Flaschen und Scherben.  Dem Chaos ist nicht mehr zu steuern. Unsere Meißenerund Sevres-Services sind durchs Haus verstreut.  Selbst draußen finden wir Stilleben davon.  Klubsessel lassen sie im Regen draußen, Mahagonisachen bestehen aus Schrammen.  Schon vom Gebein der Amerikaner her, bei denen die Tische ja als Fußbank dienen.

Es rührt mich nicht mehr.  In Gedanken habe ich alles abgeschrieben und werde das als Geschenk nehmen, was wir später einmal wieder bekommen.  Nicht an die Güter hänge Dein Herz … Wem das früher schwer wurde, der lernt es jetzt.  Mir ist’s als hätte ich nie zu denen gehört, die den vergänglichen Zierat des Lebens höher stellen als seinen Gehalt.

Endlich habe ich Zeit einmal nach Steinhorst zu fahren.  Einen großen Gummiwagen mit nützlichen Dingen bringe ich den Kindern. den sie mit ins Westfalenland nehmen sollen, weil die Beunruhigung aus dem Osten nicht aufhört.  Ich sitze im kleinen angehängten Einspänner um damit zurück zu fahren.  Zu niedlich ist die Freude der Kinder über zwei Milchkannen mit Beerenobst und über den geliebten “Brummbär”, der schon die zweite Generation mit seinem Murren begeistert und schon sein drittes Fell zu Weihnachten bekam.  Und über ihre Omi freuen sie sich. “Der Schoß und die Hände rechts und links – sind immer belagert und hart umstritten,” steht in den Annalen.  Wir schlafen über-, unter-, und durcheinander.  Alles geht, wenn man auf dem Treck ist.

Aus der gewürzten Tagessuppe dieses Sommers könnte ich allen denen es um Sensationen geht, noch manche Rosine herausfischen.  Von einem Schreckschuß will ich erzählen, der etwas weiter zurückliegt.

Ein friedlicher Morgen findet uns am Frühstückstisch.  Dröhnendes Klopfen an der Tür.  Zwei Männer in uns unbekannten Uniformen stehen unaufgefordert, mitten im Zimmer.  “Wes Nam’, wes Stand und Art” erforschen sie, ohne einen Grund dafür zu nennen. Nur die Handschellen fehlen.  Sonst ist alles da.  “Immediately come to the colonel!”

Ich schließe mich diesem fragwürdigen Unternehmen an.  Auf der Diele steht der G.’sche Kutscher (der jeden Tag dem Oberst das Pferd vor die Tür gebracht hat) mit erhobenen Armen, schon schwankend und mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht.  Ein paar Leute mit gezückten Maschinenpistolen umzingeln ihn.  Wie wir später hören war dies der bewaffnete Trupp des Secret Service.  Ins Sprechzimmer wird nur Bernhard geholt.

Ich höre aber wie eine fremde harte Stimme auf deutsch examiniert: “Seit wann kennen Sie Professor G.?  Wie kommen Sie dazu, einen führenden SS-Mann hier wochenlang zu beherbergen und zu sich einzuladen?  Sagen Sie die Wahrheit, sonst kann es Ihnen teuer zu stehen kommen.”

In dieser Form geht die Unterhaltung wohl eine Stunde lang fort.  (Daß der Colonel mit ihnen reitet, die Familie verpflegen läßt und von uns verlangte, sie auszusteuern, wird nicht erwähnt.)

Ich sitze auf Kohlen, tatenlos zwischen allen diesen mißtrauisch blickenden Waffenträgern, gegenüber dem Gestraften, der dem Umsinken nahe ist.  Endlich öffnet sich die Tür. Bernhard ist entlassen, weil keine ihrer Fragen ins Schwarze getroffen hat.

Wir erfahren, daß G. die rechte Hand von Forster[2] gewesen ist, sich persönlich für die Dinge der SS sehr eingesetzt und mit den bekannten “Spritzen” sein Unwesen getrieben hat.  Mir läuft‘s kalt über den Rücken. Wie leicht hätte er sich unter seinen Essenzen “zufällig” vergreifen können. Er wurde nach einem unbekanntem Ziel abgeführt. Nach Monaten hat seine Frau noch nichts von ihm gehört, was sie aber nicht daran hindert, den Pferdesport am Marstall des Colonels weiter zu führen, auch als sie von Thurow fort sind.

[2]  Albert Forster war der NS-Gauleiter von Danzig-Westpreußen.

Aber wir haben gelernt, auf der Hut zu sein.  Wer seine Naziängste unter unsern Fittichen verbergen will, wird ein Haus weiter verwiesen, wo das Auge des Gesetzes weniger wachsam ist und das “Enteignen” nicht so auf dem Spiel steht. –

Wir fürchten, daß der uns von Anfang an feindlich gesonnene Dolmetscher diese Sache eingebrockt hat.  Vielleicht hat er durch schlimmes Erleben Grund für diese Einstellung, aber wir sind ja nicht Schuld daran.  Vielleicht ist es auch sein stilles Ärgernis, daß sich der Colonel direkt an uns wendet und ihn übergeht.  Er nennt sich “Mister Ashley”, ist aber unverkennbar “Herr Ascher” aus Frankfurt.  Alle Anzeichen sind vorhanden, auch der Hessendialekt, wenn er sich einmal losläßt.  Weil er wohl ähnliches von einem radebrechenden Engländer gehört hat, beginnt er jeden Satz, den er an uns richtet mit. “Passen Sie auf …”  Als ihm aber plötzlich das Bonmot (dazu in Frankfurter Mundart) entfährt: “Der Kerl hat auch Dreck am Stecken,” sind wir im Bilde und sind doppelt auf der Hut.  Unsere Bücherschränke hat er von oben bis unten durchwühlt, ohne einen Haken zu finden, an dem er uns aufhängen könnte.  Seine Schleichwege führten zu einer Attraktion in den Scheunenvierteln, die zu den unerfreulichsten Gestalten gehört. Er verschafft ihr einen “Wohnsitz” und verleiht ihr den Adel, von dem ich allerdings nicht erfuhr, wie lange er gültig sein würde.  Für die Thurower Wochen jedoch bestand er.

Ein Anblick ohnegleichen war, wenn G., dieses kleine windschiefe Männchen, auf einen Trakehner klemmte (wahrscheinlich um sich liebkind zu machen) und dann noch von uns Bewunderung seiner Reitkünste verlangte.

Plötzlich, Mitte Juli rückt der Stab nach Lütjensee ab.  Der Grund ist ersichtlich.  Dicht an unserem Hause ist in voller Breite des Parkes der leuchtende Leinwandstreifen gezogen (Zur Markierung der Interzonengrenze).  Die unmitelbare Nähe ihrer russischen “Bundesgenossen” wird den hohen Herrn unheimlich.  Bernhards schönen, ererbten Schreibtisch, den der Oberst auch in Thurow benutzte, nimmt er mit. Doch haben wir ihn später durch mehrere Besuche in Lütjensee zurück erkämpft.  Für die Mannschaften war die Parole beim Abzug: “Take whatever you want, but don’t robber.”  Aber wo ist da die Grenze?  Sie wanteten eben, was sie robberten!  Matratzen und Betten fliegen in Mengen in ihre LKWs.  Mit Kochund Eßgeschirr wird rein Haus gemacht.  Kein Spieglein bleibt mehr an der Wand und keine Waschschale, kein … ich kann es unmöglich alles aufzählen.  Die kurzen Stunden ohne Besatzung benutzten wir, die beiden kleinen “Veilchen-Zimmer” neben der Badestube zu belegen.  Damit wir manchem müden Wanderer, für den Thurow die letzte Hoffnung war, ein stilles Fleckchen geben können.

Eine Polizeitruppe (Offiziere und siebzig Mann) rücken ein.  Der Ton im Hause hat nicht an Vornehmheit gewonnen.  Jazz-Klänge, die halben Nächte hindurch, ertönen aus jedem Zimmer; unartikuliertes Schreien und Gelächter, Toben auf den Teppichen.  Der verflossene Stab hatte sich nur an Service – und Bücherschränke gehalten.  Leinen und Bestecke, die er brauchte, hatte er ohne unser Wissen aus Kisten auf dem Boden entnommen.  Sie waren dort von unbekannten Trecks untergestellt.  So konnten wir auch Initialen und die Neunzackigkeit der Kronen nicht unterbringen.  Jetzt wurde ganze Arbeit gemacht.  Alle Schlösser im Hause hatten wir nach Abzug der Amerikaner herrichten lassen.  Nun waren diese wieder restlos aufgebrochen, und da uns das Betreten des besetzten Hauses verboten war, sind wir machtlos.

Damit die Mannschaft nicht Fühlung mit dem Russen nimmt, wechselt die Besatzung alle vierzehn Tage.  Trotzdem sehen und hören wir oft in dunkler Nacht schwankende und grölende Russen aus unserem Eßzimmer kommen.

Was bei dem Wechsel mitging aus Schränken und Truhen, entzog sich unserer Beobachtung.  War der betreffende Kompanieführer geleitsmäßig, so gelang es mir wohl, beim Abmarsch das eine oder andere Stück zu erobern.  Etwa mit den Worten: “You see, we are old people , and we haven’t any comfortable chair”.  Und schon war der gewünschte Großvaterstuhl wieder in unserem Zimmer.  Etwas Diplomatie gehörte schon dazu.  Bald war wohl selbst dem Engländer die Räuberei der Truppe zu viel geworden.  In jedem Zimmer hing dann ein Möbelverzeichnis, das einer vom andern übernahm, und auch für uns war nichts mehr zu erreichen, wenn man nicht kleine Tricks anwandte.

An unserer Stubentür bekam täglich der kleine Hund “Jacky” sein Futter auf einem unserer Meißener Teller (Ältestes Dessin!)  Der Tausch mit einem Blechteller wurde so lange von mir vorgenommen, wie dies kleine Untier Thurow mit seiner Gegenwart beehrte.  Ein ganzer Stapel war gerettet.  Und wenn Ihr später von den Tellern mit den braunen Streifen – die wie durchbrochen aussehen eßt, dann denkt an den kleinen, braunen Jacky und an Eure Großmutter.

Jetzt lasse ich wieder den Urtext meiner (oft nur im Depeschenstil geschriebenen) Notizen aus den letzten Julitagen sprechen: “Die Tage sind wieder gefüllt mit Gerüchten, vom Weitergehen der Russen bis zur Elbe.  An jedem Morgen, den wir noch im britischen Thurow erwachen sind wir froh. Manche Lebensnotwendigkeiten, wertvolle Akten und Briefe liegen schon im sicheren Schutz unseres “Röbchen”.  Aber das schöne alte Familiensilber wurde, soweit es sich in Milchkannen verstauen ließ, im Frühjahr unter zu diesem Zweck gepflanzten Nußbäumen im Seegarten vergraben.  Die Methode der Russen, solche Schätze mit Stahlstäben ausfindig zu machen, hatte sich herumgesprochen.  Bernhard fürchtet für dieses wertvolle Familiengut, das vielleicht einmal den Kindern aus der Not helfen kann.  Und ich rüste mich für die Fahrt nach Lauenbrück, jenseits der Elbe.

Bis Steinhorst fahren Bernhard und ich gemeinsam, um Töchter und Enkelschar noch zu sehen, ehe auch sie ihre Westfalenfahrt antreten.  Zwei Tage bleibe ich dort schlafe mit Gisa und sechs Enkelsöhnen (von ein bis fünfzehn Jahren) zusammen auf Erdlagern.  Am frühen Morgen gibt’s ein fröhliches Hüpfen und Schlüpfen zu Omis Matratze, während die Großen (Bernd und Alexander von Storch) um 6 Uhr ihren Tag mit Erbsenpflücken auf dem Felde beginnen. Gabriele und Gisa wollen die beiden mitnehmen ins Westfalenland.

Es geht mit der ganzen Schar zu unserem Treckwagen.  Die heißgeliebte Puppe “Friedolin” kommt zum Vorschein.  Mit Rosinen und Pflaumen werden alle Hände gefüllt.  Kästen mit Sandformen in leuchtenden Farben bleiben noch Vorfreude.  Und die glücklichen Worte ertönen: “Ich freu mich ja so auf die Reise, weil wir dann die Sandformen kriegen!  So sind selbst die turbulösen Umzugstage für sie übersonnt.  Und wir denken wohl mit stillem Lächeln: “Laß mich ein Kind sein – sei es mit!”

Wir alle sind Jansens (Herr auf Steinhorst) von Herzen dankbar, daß sie so viele Wochen Obdach gaben und daß sie diesen Kindertrubel ertrugen.  Wir hoffen, daß wieder so viel Freundlichkeit ihrer wartet im Land der roten Erde.  Das Inspektor-Ehepaar Giese geben wir ihnen mit zur Hilfe und zum Schutz und Trutz gegen alle Fährlichkeiten.  In Thurow werden Gieses durch Ehepaar Buhlert ersetzt.

Auf meiner Fahrt zwei Tage vor den Kindern versagen die vor wenigen Wochen aus Dutzow erstandenen Kutschpferde den Dienst. Man merkt es: Die Thurower Haferkrippe ist schon lange leer.  Was die Treckpferde übrig ließen zermalmten die Trakehner.

Vor jeder Steigung machen die Rößlein unweigerlich Halt.  Und nur, wenn Kutscher Vorbek und ich sie beide an der Trense ergreifen, sind sie zu langsamem Aufstieg zu bewegen.  Beides, der Kastenwagen und der kleine Kutschwagen, sind zu schwer für die armen Hungerleider, die sich nur an Grünfutter halten mußten.

Kurz entschlossen nehme ich den Weg über Lütjensee, werde bei unserem hohen Stab vorstellig und nachdem ich erst bei subalternen Stellen auf Granit gebissen hatte, erreiche ich durch Überredung und Unbeirrbarkeit folgendes: Sieben Zentner Hafer für den Treck der Kinder, drei Zentner für mich und ein Ersatzpferd für meinen Wagen bis Volksdorf.  Unser Haupt-Invalide soll sich hier auf der Koppel vergnügen, und wird morgen wieder vertauscht.

Das reizend eingerichtete Wochenendhaus eines reichen Hamburgers hat der Stab hier bezogen.  Ein Motorboot auf dem See, die Trakehner im Stall und der Russe weit weg, scheinen sie sich wohl zu fühlen.

Ein Rokoko-Sessel wird mir auf die Terrasse gebracht von dem Waiter, mit dem ich in Thurow so manche Verhandlung gepflogen, und der nach stummer Übereinkunft froh war, in mir seine Chefeuse sehen zu können.  Der Colonel war nicht zu Hause, doch der zuständige Offizier ergab sich der Berechtigung meiner Forderung.

Gegen das Programm schaffen wir es mit dem kleinen Kastenwagen nur bis Volksdorf.  Das “Flüchtlingsgut für den Notfall – von der Matratze bis zum Erbsensack – wird von Dr. Groths mit unendlicher Gefälligkeit in seinem Keller und Boden verstaut, trotzdem unser Überfall überraschend war.  Das Silber packe ich auf der dunklen Scheunendiele eines nahen Hofes aus den Milchkannen in Koffer um.  Und weiter geht nach einem Ruhetag die Fahrt, nur mit dem Kutschwagen und dem Silber von Dr. Groth freundlich und mit Kennerschaft durch die Großstadt geleitet.  An einem Rotkreuzschalter erkämpfe ich den Paß zur Überfahrt über die Elbe.  (Der Verkehr war derzeit gesperrt).

Ein merkwürdiges Gefühl überkam mich, zum ersten Mal wieder in ungefährdeten Regionen zu sein, etwa als lege man eine Gänsehaut ab.  Alle Gasthäuser sind beschlagnahmt.  Bauernhöfe die einzige Quartiermöglichkeit.  Zur Ehre meiner Gastgeber auf dieser Vier-Tage-Fahrt muß ich sagen, daß wir nur freundliches Entgegenkommen fanden und immer für den Rückweg aufgefordert wurden, wieder einzukehren. An ein zu kurzes Sofa oder den Ozon einer guten Stube hast du dich im Laufe der Nacht gewöhnt.  In Scheunen, oder in freier Wildbahn brauchte ich nie zu schlafen.  Was ein schützendes Dach wert ist, lernt man auf solcher Fahrt erkennen.  Wer nie getreckt ist, der kennt das Jahr 1945 nicht.

In der Heide nicht weit von der Landstraße ist ein großes Lager (Bergen-Belsen).  Dessen jetzt befreite Bewohner strolchen überall umher. Schwarze Augen blitzen uns an.  Man fühlt sich unsicher in dieser Gegend. Meine Silberkoffer tun ihren Inhalt nicht kund.  Das ist das Beste an dieser unheimlichen Fahrt.  Noch vor Dunkelwerden suchen wir ein Quartier. Die erste Sorge gilt immer den Pferden.  Alles ist gut gegangen.  Da spielt im letzten Quartier eine zu hohe Schwelle einer Bauernscheune unserem Schwarzen einen Streich.  Verstauchung, starkes Anschwellen des Gelenks auf der Schlußfahrt.  Auch hier überraschen wir, da Post und Telefon infolge des Krieges noch außer Betrieb waren.  (d.h. Ankunft, ohne vorherige Anmeldung)

Es folgt ein reizend herzlicher Empfang der temperamentvollen, warmherzigen Hausfrau, die glücklich ist, Heimatluft zu atmen bei Erzählungen von Goldensee und Umgegend. (Gräfin Bothmer ist die jüngste Tochter von Walke-Schuld und ist in Goldensee aufgewachsen.) Sie ist die Seele des Ganzen, hat Rat und Tat für jeden, ist Arzt und Operateur fürs ganze Gut.  Aber ihre große Passion ist ihr Garten, worin ich viel von ihr lernen kann.  Ein fröhlicher Abend im großen Familienkreise.  Auch unsere netten alten Bredows sind hier gelandet. Als sie am nächsten Morgen weiter ziehen und ich sehe, daß sie als einziges Requisit einen verbogenen Blechlöffel haben, kann ich nicht anders als ihnen ein vollzähliges Besteck zu geben vom schönen Thurower Wappensilber.  Also, sollte dies, nach mühevollen Wanderungen einmal als Erbe wieder an Euch fallen, so wißt Ihr den Zusammenhang.  Bekommen soll es dann das von den Enkelkindern, das grade am wenigsten damit zu löffeln und zu beißen hat!

In der Frühe treten Frau Nataly und ich die geheimnisvolle Fahrt in die Wälder an.  4000 Morgen sind davon vorhanden.  So ist die Gefahr der Entdeckung nicht groß.  Ein paar eiserne Kästen sind in dem tüchtigen Haushalt bald gefunden.  Von dem “Hagen”, wohin uns der rundliche Pony bringen soll, wird eine Zeichnung entworfen.  Die Gräfin gräbt und ich rekognosziere.  Nur ein Häschen und ein Eichhörnchen sind Zuschauer.  Sie werden schweigen.

Am Abend am Rundfunk horche ich auf: “Die heutigen Zonengrenzen bleiben bestehen, außer einigen kleinen Grenzbegradigungen.”  “Und dazu gehören wir”, entfährt es mir.  Unsere hoffnungslose Lage steht vor mir: Das einzige noch britische Gut hinter dem Goldensee, die einzige Chaussee zum englischen Ratzeburg ist vom Russen besetzt und streng verteidigt.  Wird der Engländer sich eines Gutes wegen mit dem Russen erzürnen?  Man versucht es mir auszureden, aber ich möchte zurück wenn nur mein Rößlein wieder auftreten könnte!  Der Tierarzt und Frau Nataly doktern mit vereinten Kräften.  Ich versuche mit Sohn Oskar in allen lebenden und toten Sprachen ein Auto zu erwischen.  Alles umsonst.  Schließlich ergebe ich mich und habe dann ganz ungeplant, aber darum um so schöner drei fröhliche Wochen im lieben Bothmerhaus verbracht.

Die Heide blüht.  Entzückende kleine Schleichwege von einzelnen jungen Kiefernbeständen führen hindurch.  Die Sonne strahlt wie nur je.  Mit dem Hausherrn fahre ich durch die weite Forst.  Frau Nataly führt mir die hohe Schule ihrer nicht zu übertreffenden Gartenkunst am Ort der Tat vor.  Mit der Jugend lache ich, wie ich lange nicht gelacht habe.  Mein Rößlein schwillt ab.  Für morgen ist es für die Fahrt freigegeben.  Da kommt ein Mädchen hereingestürzt!  “Frau Berckemeyer, Ihr Pferd hat sich den Bauch aufgeschlitzt!”

Ich bin noch gelähmt von furchtbaren Vorstellungen und ihren Folgen, als Frau Nataly schon mit Bandagen, Narden und Spezereien den Weg zur Koppel antritt.  Von einem Schwarm von Bothmer-Enkeln und Hausgästen gefolgt, stellen wir Gottlob fest daß das “Schlitzen” nur durch einen Draht geschah, der wohl eine Ader traf, aber nicht sehr tief vordrang.

Am selben Abend höre ich noch von dem neuen Gast Dr. Bressel, der bei meinem Namen stutzt, daß er in Hittfeld vor wenigen Tagen ein schwer krankes Kind bei einem Treck, Behm-Berckemeyer, behandelt habe.

Nun hält mich kein “Pferdefuß” und kein Bauchschlitz mehr.  In der nächsten Frühe fahre ich in den sonnigen Augustmorgen hinein.  Den kleinen Wagen behangen mit unzähligen Heidesträußen, winke ich noch lange meinen lieben Gastgebern und dem fröhlichen Bothmerhaus zu.

Unser kleiner Albrecht läuft mir in Hittfeld schon entgegen.  Nur blaß und so schmal war er geworden.  Wie schwer ist es, ein darmkrankes Kind auf dem Treck richtig zu pflegen!  Frau Giese, mit der ich ja wochenlang in Thurow in Küche und Keller wirkte – backt als festlichen Empfang einen Platenkuchen – in der Vollendung.

Ich schlafe mit Hänna – parterre unter einem Leezer Moskitonetz (früher hat es Schwiegervater Berckemeyer auf Jagdhütten begleitet), denn eine merkwürdig aggressive Mückenart treibt hier ihr Unwesen.  Beim sturen Ortsschmied kann ich Gisa noch zum Beschlagen eines Pferdes verhelfen und heimwärts geht dann mein Weg.  Klein Hänna darf mich durch den Ort begleiten.  Er ist fünf Jahre alt und meint, er fände bestimmt zurück. So von Herzen betrübt steht er am Wege, als ich davon fahre, so vom Winde verweht, so verstoßen.  Er winkt nicht, wie es sonst seine fröhliche Art ist.  Was mag in solchen Augenblicken durch ein Kinderherz ziehen?  Es kennt doch die Zusammenhänge nicht, nicht das bittere Muß der Stunde.

Auch mich trifft es hart, nun die Töchter und die ganze Enkelschar in so weite Fernen ziehen zu sehen.

Dreißig Kilometer führen mich durchs Hamburger Trümmerfeld.  Das trostlose Grau ist nur unterbrochen von dem Rot der Bettdecken, die die Bewohner der Kellerlöcher in die trocknende Sonne legten.  Von manchen der ausgebrannten Wolkenkratzer ist nur der oberste Stock bewohnt.  Man fragt sich nur, wie kommen die Menschen da hinauf?  Durch Leitern im Inneren des Hauses?  Ein „Fieseler Storch“ (ein kleines Flugzeug) wird ihnen kaum zur Verfügung stehen.

Langsam geht die Fahrt. Der “Schwarze” gibt das Tempo an! Meine riesigen Heidesträuße leuchten in der Sonne.  Manch begehrlicher Blick, manche Bitte folgt ihnen in dieser jetzt so blumenlosen Stadt.  Ich verschenke mehr davon als ich vor den lieben Spendern verantworten kann.

Meine Unruhe steigt.  Was kann sich in Thurow ereignet haben?  Wird Bernhard noch im Hause wohnen dürfen, oder ist er über irgend einen Stein, deren es genug gibt, gestolpert?

Bei meiner Fahrt durch Mustin fragt mich der junge Kellinghusen: “Wissen Sie schon, daß Ihr Mann jetzt auf dem Kornboden wohnt?”  Ich fahre dort vor: Verschlossen!  Bis ich erfahre, daß der Wäscheboden auf dem Anbau gemeint ist, muß ich in dieser Abendstunde erst an verschiedene Türen klopfen.

Und der Grund?  Bernhard war auf der Diele erwischt worden, als er zwei edle Vasen aus den Zeiten seiner Urväter, an denen sein Herz hing, vorm sicheren Untergang retten wollte.

Tadellos hat er auf dem Trockenboden, dem nun einzigen Raum, schon alles eingerichtet.  Ein Innenarchitekt wäre an ihm verloren gegangen, wenn er nicht solch tüchtiger Landmann wäre.  Die Wohnecke mit meinen hellblauen Birkenmöbeln ist direkt behaglich. Die “Küche” an einem Pfeiler in der Mitte, das “Büro” hat er außer dem Telefon, alles was dazu gehört.  Über meinem Bett kann ich schon Licht anschalten.  Also was will man mehr?  Unser Thurow ist uns geblieben.  Und das “Mensch-werde-wesentlich” haben wir doch alle über unser Leben geschrieben.

Aber, am Ende des schrägen Daches schaut eine Handbreite vom Himmel herein.  Und der Winter wird kommen.  Ich will den Schichtwechsel der Besatzung abwarten und werde dann die passenden Schritte tun.

Am nächstan Tag braust ein Auto vors Hauptportal und wird an die äußerste Ecke des “Anbaus” verwiesen.  Gräfin Nataly, mit Sohn Oskar steigt aus: Das von mir beantragte Auto hatte sich “durchpapiert”.  Eiligst waren sie mir nachgefahren, weil sie fürchteten, mich doch noch mit “Knickfüßen” auf der Landstraße zu finden.  Über Hittfeld hinaus fanden sie die Spur, die sich aber in Hamburg verlor.  Selten haben wir so gelacht, wie bei diesem Empfang in unserem Tuskulum!  Die Vorkehrungen für die Nachtquartiere werden getroffen.  Zwischen Frau Natalys und Bernhards Lager halten wir einen Pfeiler für passend.  Und als Sohn Oskar in Frau Lüneburgs verflossener Speisekammer zu sehr von Ratten geplagt wird, findet sich auch für ihn noch ein dezentes Bodenlager im Gemeinschaftsraum.  Nächtelang lächele ich (in Öl, so à la Mona Lisa) auf ihn herab, aber erschossen hat er sich trotzdem nicht.

Und ich wünsche euch allen, daß ihr mit euren Gästen immer so vergnügt seid, wie wir mit den Unseren auf dem Thurower Trockenboden.

Der nächste Captain läßt sich geleitsmäßig an.  Ehe er alle Zusammenhänge erforschen kann, sage ich ihm, wir hätten nur vorübergehend dies Quartier bezogen.  Unsere eigentlichen Zimmer lägen im Haus, vom Colonel für uns bestimmt.  Er murmelt etwas von “new laws”.  Und ich entnehme, daß wir nicht mit ihnen die gleichen “stairs” benutzen dürfen.  Wie ein Vogel, der sein Nest verteidigt kämpfe ich, und das Resultat ist folgendes:  Wir sollen unsere Wohnung zurück haben, wenn wir einen eigenen Aufgang und Abgrenzung durch Bretter herstellen. – Und siehe da, es geschah.  Wenn auch das Treppchen, das bald durchs Anbaudach führt, in der Geburt versehen ist, so daß man unweigerlich beim letzten Schritt stolpert, wenn man auch eine schwere Luke bei jedem Aus – und Eingang heben muß, so tröstet man sich an dem Sternenhimmel, der dann erscheint.  Und es ist nur noch ein Sprung zum Entree in Personalunion mit dem Örtchen (das W.C.).  Wir sind glücklich, wieder ein Anrecht zu haben auf unsere Heimstatt. Daß unser Hausrat und unsere Vorräte sich nicht vermehrten bei diesen “Umtrieben” leuchtet ein.

Die neue Bretterwand hat eine Tür.  Das hat sein Gutes.  Nun müssen sie höflich klopfen, wenn sie einen Besen oder Teetopf leihen wollen. Oder, was oft geschieht wenn sie mich zum Dolmetschen holen.  Daß ihnen mein stolperndes Schul-Englisch genügt, ist die Folge einer Einschränkung bei der Truppe, die ihnen keine Dolmetscher bewilligt.

Ging dieser Aktus in der Frühe vor sich, so empfängt uns der Leiter der Verhandlung im Pyjama auf goldenem Empire-Stuhl im Saal.  Der rote Emaillebecher mit dampfendem Tee zeigt durch weiße Kringel auf dem Mahagonitisch, wo er gestanden hat.  Die beiden Rudloffs aus Goldensee machten solche Sitzung einmal mit.  Sie sind Zeugen dieser Vorgänge.  Aber auch gemütliche Stunden gibt’s.  An schönen Tagen essen wir unsere Mahlzeiten auf dem Balkon, den wir sonst nur zum Bettensonnen und dergleichen betreten.  Und wir finden, daß es ein bezaubernder Platz ist.  So kann man seine Heimat nach hundertfünfzig Jahren entdecken!  Zu unserer Unterhaltung ertönt aus der nahen Lindenallee das: “right – left – right – left – stay” unentwegt an unser Ohr.  Mit der nötigen sandigen Pellkartoffel im Mund wird es als Strafexerzieren von einem forschen Sergeant fast täglich verzapft.

Nach allem Trubel freue ich mich auf unsere erste Feldfahrt.  Der Weizen hinter dem Garten wird eingefahren.  Der Schlag ist Niemandsland, aber man kann das schöne Korn doch nicht draußen lassen!

Es ist heiß.  Ein großer Birnenkorb fährt auf dem Rücksitz mit für die durstigen “Lader und Staker”.  Wir halten bei den Wagen, eine Birne nach der andern fliegt auf die hohen Fuder hinauf und wird mit Lachen begrüßt.  Plötzlich bürstet aus dem Busch eine Gestalt auf uns zu, ein Mongole vom reinsten Wasser.  Alle Schrecken, die man von drüben hört, stehen ihm auf unseren Gesichtern geschrieben. Der geschulterte Karabiner kommt herunter.  Eine unartikulierte Suada dieses Analphabeten ergießt sich über uns.  Die Nähe unserer Arbeiter ist eine Beruhigung. Wir lassen ihn sich abkämpfen. Dann halte ich ihm mit ungerührter Miene den Korb hin: “… und wie wär’s nun mit einer Birne?”  Verdutzt sieht er mich an, grapscht mit beiden Händen hinein, und füllt seine Taschen.  Aber sein dann rasch geäußerter Wunsch nach Zigaretten (das Wort ist wohl international wie sein Laster) bleibt unerfüllt.  Wir fahren mit einem Nicken davon, und selbst die vielen tückischen Blicke aus dem Busch, können uns nichts mehr anhaben, da der Anführer kapituliert hat.

Von einem der Leute, der russisch versteht, erfahren wir, daß es sich um das “Spazierenfahren” gedreht habe.  Wir sollten arbeiten!  Ähnlich ist es uns später in Römnitz, an der Neuhöfer Grenze ergangen.  Aber da wir mit großem Kutschwagen fuhren, und ein Häuflein Sonntagsgäste an Bord hatten, war es gefährlicher.

Trocken und in bester Verfassung wird in Thurow alles Korn geborgen.  Ich sehe noch heute, wie hell und knusprig die Samenrüben durchs Tor kommen, um auf dem Hof gedroschen zu werden.

Der Strom der schwarzen Grenzgänger schwillt an.  Strenge Maßregeln werden von oben herausgegeben.  Unsere Polizeitruppe tritt in Aktion.  Mit LKWs jagen sie durchs Land und bringen ganze Scharen von diesen armen, gehetzten Menschen.  Sie müssen das Haus säubern, für die Truppe Kartoffeln schälen usw.  Daß das Frauenlager geheizt wird, zum Trocknen von Durchnäßtem, kann ich wenigstens erreichen.

Spät abends klopft es an unsere Pforten.  Es ist Sellschopp-Balow, mit zahlreicher Familie.  Wir sollen den Bestimmungen gemäß jeden melden. Aber warum so spät noch alles aufscheuchen?  Auch müßten sie dann in die Gemeinschaftsräume.  Unsere Sofas und Erdlager sind bereit, Rote Grütze wartet und frischer Sonntagskuchen. Um Mitternacht ist Ruhe eingetreten.  Sellschopps schlafen den Schlaf der Erschöpften. Ein Stoß mit dem Gewehrkolben an unserer Tür: “Wen haben Sie noch so spät eingelassen?”  So lange haben sie gewartet, um alle einzulullen und das Nest in seiner ganzen “Strafbarkeit” auszunehmen!  All unsere nächtlichen Gäste werden nun ins Lager gebracht.  Nur den Kindern läßt man ihre Ruhe.  Wir müssen als erste vor den Kadi (Untersuchungskommissar).  Dort erzählen wir den Vorgang, und ich berufe mich darauf, daß mein letztes Wort zu Sellschopps war: “Morgen müssen Sie sich ganz früh unten melden.” –   Sellschopp wird gerufen: “Was sagte Frau Berckemeyer Ihnen gestern abend zuletzt?”   Er antwortet mit meinen Worten, und für diesmal ging der Kelch an uns vorüber.  Aber Thurows “Grüne Grenze” hat unter unseren Bekannten eine Berühmtheit erlangt, weil alle hier verborgen, beherbergt und verpflegt werden.  Können wir denn dem Freund von unserm Dietz (Heinz Engel) oder Karin Heydebreks Mutter die Tür weisen?  Aber werden diese Dinge eines Tages dazu beitragen, daß die Russengrenze an den Goldensee verlegt wird, daß dann nicht durch unsere Feinde sondern durch unsere Freunde die alte Heimat verloren geht?

Aber bald werden die Vorschriften gelockert.  Man zeigt wenigstens diesseits Verständnis für die Härte dieser Sperre.  Es scheint uns ein erträglicher Winter bevor zu stehen.

Wir feiern mit ein paar Nachbarn sehr vergnügt im kleinen Gemach Bernhards 66. Geburtstag, nicht ahnend, daß es der letzte in Thurow sein soll.

14. November 1945

 Zwielicht.  Der Regen rauscht.  Vetter Ferdi Sydow will mir die Spitzfindigkeiten des Schachspiels erklären.  Da wurde Bernhard zum Telefon gerufen.  Mit merkwürdig müden Schritten kommt er zurück die Treppe herauf. Ich sehe ihm an, es gibt eine schlimme Nachricht.  “Müßen wir fort?” war meine erste Frage.

Wie soll ich ihn trösten in dem, was nun kommt.  Nur der Gedanke, daß alles nur vorübergehend sei, gibt uns ein wenig Hoffnung.  Den Grund erfahren wir nicht.  Wahrscheinlich war es der schlechte Landweg, der nun, weil die Chaussee für alle Fuhrwerke der Besatzungstruppe gesperrt war, benutzt werden muß.  Wäre uns dies vorhergesagt worden, hätten wir gerne mit den beiden Bauerndörfern aus dem Hinterland zusammen, die nun auch räumen müssen, diese 4 km Steindamm gebaut.  Eine anderer Grund mag sein: Die Ratzeburger Seeufer (sprich Römnitz) sollen frei werden, weil die Nähe des Russen, der großen britischen Besatzung dieser Stadt, unheimlich ist.

Vierzehn Tage haben wir Zeit zum Räumen.  Alle Ratzeburger und Möllner LKWs müßen fahren, alle Gespänne der Nachbargüter ebenfalls.  Es sollen keinerlei Werte zurück bleiben.  Sechs Herren mit Aktentaschen kommen, darunter der Ratzeburger Landrat.  Sie geben für den Transport alles lebenden Inventars Zeit und Stunde an.  Auf regionale Güter und Bauernhöfe soll alles vorläufig verteilt werden, bis eine entgültige Umsiedlung stattfinden kann.  Man meint, daß für uns, die noch vom Russen besetzte Domäne Römnitz später in Frage kommt.

Wer von Euch kann sich ein Bild machen, was das bedeutet, ein Gut zu räumen?  Ein Gut, wo alles ineinander greift und alles aufeinander abgestimmt und angewiesen ist.  Wo das Vieh von den verschiedenen Sorten Winterfutters und die Aufzucht wieder von der Milch abhängig ist.  Und so geht es bis in die letzte Phase des Betriebs.

Ohne jede Vorbereitung und ohne genaues Wissen von dem Ziel des Einzelnen muß dies geschehen.  Genügend Aufsicht ist nicht so schnell zu beschaffen.  Die Wagen kommen von allen Seiten auf den Hof gejagt: “Was soll ich nehmen?  Wo ich?  Wohin ich?”  Es sind Ehrliche und Unehrliche darunter.  Viele der Wagen kommen gar nicht am Bestimmungsort an.  Das Korn aus den Scheunen wird irgendwo in unordentliche Mieten gesetzt.  Rauhfutter, Rüben, Kartoffeln werden an der Chaussee in Haufen gestapelt und sind Freiwild für jedermann. Für den ganzen Winter sollte der reichliche Vorrat vorhalten. Er reicht nicht einmal bis Weihnachten.

Das Vieh wird irgendwo und irgendwie viel zu eng – untergebracht.  Daß unsere guten Viehpfleger mit ihnen gehen, ist der einzige Trost.  Aber vor leeren Krippen vergeht ihnen bald der Mut.

Wenn Bernhard und ich uns in diesem Chaos von Helfenwollen und Machtlosigkeit begegnen, treffen sich nur stumm unsere Blicke, und jeder eilt weiter zu dem, was die Stunde von ihm fordert.  Fürs Haus sind so rasch keine gelernten Packer zu bekommen.  Eine Firma bietet sich an, die sich später als unehrlich erweist.  Es sind überall noch Kisten und Kästen verstreut, die wir nicht unterbringen können.  Und so wissen wir heute noch nicht, was alles diese Leute mitnahmen, von unseren schönen, alten Familiensachen.

Als die Möbel verstaut sind, nehme ich den alten Stephan und gehe mit ihm zu meinen geliebten Pflanzungen.  Wir machen sie reisefertig: Von den jüngsten Obstbäumen nehme ich einige, auch von allen Sträuchern, und von meinen Stauden und Steingartenkissen. – Die vierzig Rhododendren vorm Haus reisen alle mit.  Dieser Gang ist mir am schwersten geworden.  Mit welcher Liebe, in dem Gedanken an die Nachkommen, hatte ich alles gepflanzt und gepflegt. Als unsere Söhne noch lebten, habe ich mich mit ihnen beraten, welche Obstsorten ihnen die Liebsten wären.

Vierzehn junge Bäume hatten eine Porzellanplakette (diese tragen sie vielleicht heute noch!) mit je einem Namen der Enkelkinder.  Die Bäume hatten sie sich bei ihren letzten Besuchen nach viel wechselvollem Überlegen ausgesucht.  Es war auch bestimmt nicht leicht zu entscheiden, ob eine Mirabelle oder eine dicke Herzkirsche schöner sei. Die Walnüsse brauchten leider zu lange Zeit bis sie trugen, fünfzehn Jahre!  Die Reife der betreffenden Bäume wurde nach Möglichkeit in die Ferien gelegt.  Kennt ihr Euren Baum noch, Kinderlein!  Und werdet ihr ihn wiederfinden?   Wenn er noch steht, und wenn …!  Aber größer ist er dann geworden, viel größer, und Ihr müßt schon mit Körben kommen, wenn Ihr ernten wollt.

Die Schilder erregten manche Verwunderung.  So fragte mich ein Obstbaumkenner: “Frau Berckemeyer, Sie haben da eine ‘Rembert-Pflaume’. Die ist mir neu!”

In den letzten Thurower Tagen sah ich eine Schar von “Baummardern” mit Spaten und Schaufel über meine junge Obstkoppel herfallen.  Was sie da von mir zu hören bekamen, werden sie in ihrem Leben nicht vergessen.  Daß diese Zerstörung kam, wußte ich.  Aber ihr Zeuge wollte ich nicht sein.

 Als mein Werk in Thurow getan war, erkämpfte ich von Behörden und Bewohnern zwei Mansardenstübchen im alten Elternhaus, Hindenburghöhe in Ratzeburg.  Ich ließ sie säubern, streichen und richtete sie ein.  Nach Möglichkeit genau so wie im letzten Thurower Eckchen.  Alle Pflanzen wurden eingeschlagen im Garten, der mich als ungezäunte, dicht zusammengewachsene Prärie empfing.

Der britische Gouverneur hatte uns ein Personenauto zur Verfügung gestellt.  Und so kann ich hin- und herpendeln.  Ich hole noch ein Edeltannenbäumchen von der gewohnten Stelle für Heiligabend welches draußen ein Plätzchen bekommt, wo es frisch bleibt und dann für Bernhard eine Weihnachtsfreude ist.  Auch das hundertjährige bunte Fenster in der Kaffeehütte lasse ich vorsichtig herausnehmen.  So viele Erinnerungen aller Generationen knüpfen sich daran.

Als Letztes kommt ein Stück guter, eiserner Zaun für den Ratzeburger Garten dran.  Da dies am vierzehnten Tag geschieht, steht schon der Russe mit aufgepflanztem Seitengewehr daneben. “Warum Zaun?” herrscht er uns an.  “Ick haug em einen rünner,” murmelt Werner Kabelmacher sich in den Bart.  Aber es kommt nicht dazu.  Auf mein ruhiges: “Weil wir ihn brauchen” verzieht er sich knurrend.  Die beiden letzten Nächte schläft Bernhard allein mit zwei Mann Besatzung in dem großen, leeren, totenstillen Haus.  Es ist nicht sehr beruhigend dies zu wissen, denn der Russe lauert sprungbereit an den Pforten.

Früh komme ich am 27. November aus Ratzeburg.  Es ist unser Verlobungstag vor neununddreißig Jahren.  Letztes Räumen, letztes Anordnen, letzte Erbsensuppe in irgend einer Ecke des Wirtschaftshauses.  Noch ein stiller Weg durch die lieben ach, so verstörten alten Räume.  Laut hallt es unter dem Fuß, wie Echo klingt die Stimme.

Geblieben sind nur die Umrisse der Bilder an den Wänden, von denen manche, vor allem die “Holländer” auf der Diele, die seit einhundertfünfzig Jahren ihren Platz nicht gewechselt haben.  Geblieben sind Anny Walters fröhliche Embleme an den Türen des oberen Stockes: das Nest der Stieglitze, die goldenen Ähren, die Veilchen und Vergißmeinnicht. Geblieben ist das steinerne Wappen über der Haustür: Der gewappnete Arm mit der Sense.

Das Bernhard mehr leidet als ich ist natürlich.  Es sind außer seinem schönen Arbeitsfeld die geliebten Stätten seiner Kindheit, die er der Verwüstung preisgeben muß.

Ein wenig hilft’s, wie der Gespannführer Otto Kabelmacher ihm aus seinem letzten Fläschchen einen tüchtigen Schluck anbietet.  Die Gesinnung und das Verstehen, die darin liegen, helfen.

Die fünf Gespanne mit dem Allerletzten setzen sich in Bewegung.  Ein treuer kleiner Motor, der uns bis zum Letzten mit Wasser versorgte, steht darauf, eine Leiter starrt hervor, Tische, Stühle, ein kleiner Herd, noch warm vom letzten Kochen.  Laut rasselt das Kochgeschirr.

In den Sätteln die Männer, deren Väter und Urväter auch schon vor hundert Jahren Thurow ihre Heimat nannten, im treuen Dienst der Scholle und ihrem Herrn.  Ihre Gesichter zu sehn ist wie ein Trost.

Wir zögern, um an diesem traurigen Zug nicht noch vorüberfahren zu müssen.  Langsam lassen wir unser Auto laufen – ganz langsam.  Noch ein Blick aufs Haus, auf die offenen Scheunentore.  Warum sollten sie geschlossen werden?  Auf die Dorfwohnungen, die so öde und menschenleer da stehen, als hätte hier die Pest gehaust.  Vorüber an den aufgerissenen Kartoffelmieten.  Das weiße, frische Stroh leuchtet, da wo sie gestanden haben.

Meine Hand legt sich auf eine zusammengekrampfte Faust, die sich dann langsam löst.  Sprechen können wir nicht.

In Ratzeburg angekommen fordert die völlige Erschöpfung ihr Recht.  Und das ist gut.  Unsere Stübchen sind mollig warm, blitzsauber und hell.  Nach dem eisigen Chaos ein Ruhepunkt.  Die Bilder unserer Kinder schauen mit ihren lieben Augen von den Wänden.  Alle Möbel sind so vertraut.  Die gute Frau Tordsen hat für warmes Abendessen gesorgt.  Mein Stubenmädchen schickte ich voraus.  Es wird ein stiller, friedlicher Abend nach den Schrecken allen Erlebens.

Der nächste Tag führt Bernhard zu seiner verstreuten Habe.  Seine ganze Kraft wird für Wochen damit beansprucht.  Ich behielt einen jungen Flüchtlingsgärtner, Kutscher und Rademacher in Ratzeburg zurück, errichte Zäune, lichte den Urwald (im Garten), heile Schäden und pflanze, pflanze alles, was uns Erinnerung sein soll, wenn der Frühling kommt. Viele Gänge zum Gouverneur und Landrat machen wir gemeinsam, bis es feststeht, daß uns Römnitz als Pachtung zugesprochen wird.  Der erste Weg dorthin ist schön.  Bei strahlender Sonne geht’s vorüber am blitzenden See, in dem sich der alte Dom so malerisch spiegelt und der Schwalkenberg so lustig ins Wasser ragt.  Doch, als wir den Hof betreten, sind wir erschüttert: Riesenlöcher in den Strohdächern, Verwahrlosung überall.  Das Gutshaus war ein Tummelplatz russischer Orgien gewesen.  Kein freundliches Entgegenkommen der Bewohner.  Sie fühlen sich als vom Russen gesiedelt und widersetzen sich der treuhänderischen Verwaltung des Engländers und dem von ihm eingesetzten Pächter.  Man fühlt es auf Schritt und Tritt.

1950 newspaper article  http://www.zeit.de/1950/16/wenn-der-eiserne-vorhang-verschoben-wird

 Inspektorenpaar Buhlert übernimmt vorläufig die Verwaltung.  Die Flüchtlinge im Gutshaus bekommen andere Wohnungen.  So können nacheinander zehn unserer Thurower Arbeiterfamilien im Wohnhaus Unterkunft finden.  Jeder bekommt seine Küche und Keller, seinen Stall und seinen Hühnerwiemen.  Wieder ein Meisterwerk von Bernhards Innenarchitektur!

Ein Bauernführer gibt Bernhard den Rat, vorläufig nicht in Römnitz die Nächte zu verbringen.  Jenseits des Schlagbaums würden Dinge geplant, die diese Vorsichtsmaßregel erforderten.

So behalten wir unser kleines Vogelnest im alten Elternhaus als eine friedliche Insel im brandenden Meer der neuen, mühevollen Arbeit und der wechselnden Ereignisse.  Und viele, die Rat und Hilfe, ein warmes Stübchen oder eine Mettwurst brauchten, haben in den sieben Monaten unseres Dortseins den Weg zur Hindenburghöhe gefunden.  Daß wir vorm Aufbruch in Thurow noch vier Schweine schlachten durften, hat den Anfang in Römnitz erleichtert, und die Freude des Helfenkönnens wurde mir nicht genommen.

Wenn ich Leute brauchte zum Tragen der Möbel, zum Holzhacken oder dergleichen, ging ich nur auf die Straße zum Umschau halten.  Von den “kleinen politischen Sündern” gab es viel Stellungslose, die dankbar waren für jedes Stückchen Speck, das sie sich verdienen konnten.  Nach ihrem Gewerbe und Titeln fragte man nicht.  Sie gingen zu den höchsten Stellen hinauf.  Es war eine wilde, jammervolle Zeit.

In meiner kleinen Küche mit schönen Vorräten selber zu kochen, machte mir Spaß.  Wie lange war es her, daß ich täglich die Mehlschwitze gerührt, den Braten hatte zischen lassen?  Die Urlaubszeiten der Sellings abgerechnet, griff es wohl auf meine Bremer Lehrzeit zurück.  Daß es trotzdem meinem Gatten und lieben Gästen sichtbar schmeckte, war eine Freude.

Sylvester 1945 vor Mitternacht

 Wieder ist’s für Bernhard ein Großkampftag in Römnitz gewesen.  Aber nun ist es vergessen.  Der Karpfen vom Fischer Buk aus dem Schaalsee, der letzte gute Tropfen kalt vom Balkon, unser warmes Stübchen, liebe Briefe von den Kindern legen sich wie ein weicher dichter Schleier darüber.

In behaglichen Ohrenstühlen sitzen wir am Thurower Tannenbäumchen.  Die letzten Kerzen wollen erlöschen.  Sein ganzer Schmuck sind viele kleine, dunkelrote Äpfel, heimlich von mir bewahrt.  Jeder von ihnen ist eine unendlich liebe Erinnerung an die alte Heimat, an den Garten, an das Bäumchen.

Lustig tanzt ein solch kleines rundes Ding bewegt durch die Wärme der letzten Flamme unter ihm.  Sie erlischt und auch dem kleinen Apfel geht der Atem aus.  Zwölf Klänge der Domuhr hallen über den See.  Die Glokken läuten das Finale des Jahres “1945”

Helene Berckemeyer, Römnitz, Oktober 1949